Weibliche Führung – Ein persönlicher Beitrag zur Debatte um Female Leadership, Prägung, kollektive emotionale Reife und „toxische Männlickeit“.
Einladung zum Perspektivwechsel
Dieser Artikel ist eine Einladung, die Debatte um Führung neu zu betrachten. Mir ist bewusst, dass das Thema sensibel ist und emotional aufgeladen sein kann. Ich schreibe aus der Vision einer traumainformierten Gesellschaft – und als Aufklärer, der sich immer wieder soziologische Phänomene anschaut, um die zugrunde liegenden Muster sichtbar zu machen.
Die aktuelle Diskussion um „mehr Leadership“ verstehe ich als Symptom einer Mangelgesellschaft: eines Mangels an Liebe, Sicherheit und Verbundenheit, den wir alle teilen. Was folgt, ist eine persönliche Betrachtung, kein fertiges Modell. Es ist ein Angebot, Impulse zu setzen: Führung ≠ Dominanz, Polarität ist sequentiell, und Sicherheit im Nervensystem ist die Basis, auf der Beziehung und Kultur reifen.
Die unausgesprochene Antwort
Im Sommer 2025 war ich auf dem Bhakti Bloom Festival eingeladen und saß ich als Speaker beim Symposium „The Power of Relationship“. Es war geplant, dass wir Panelteilnehmer unsere Sicht auf die Frage geben: Braucht unsere Welt heute mehr feminine Führerschaft?
Dafür blieb keine Zeit – und ehrlich gesagt war ich fast erleichtert, denn diese Frage lässt sich aus meiner Sicht kaum in zwei Minuten beantworten. Sie berührt Erfahrungen, Prägungen, Wünsche und Verletzungen, die mich mein Leben lang begleiten. Alles, was ich hier schreibe, ist geprägt von meinen eigenen biografischen Schleifen, von der Arbeit mit Männern und Frauen und meinem Versuch, Beziehung, Führung, Männlichkeit und Weiblichkeit immer wieder neu zu verstehen.
Dieser Text ist deshalb kein abschließendes Statement, sondern ein persönliches Destillat aus Jahren innerer und äußerer Arbeit – geschrieben für mich und dich als Lesenden, um die Debatte um Führung, Männlichkeit, Weiblichkeit und Heilung zu vertiefen.
Ein Wort zu meiner Perspektive: Ich schreibe als Mann – aus meiner gelebten Biografie und meinem Körper heraus. Ich kann Erfahrungen von Frauen nicht beanspruchen. Ich höre zu, lasse mich korrigieren und spreche hier aus meiner traumasensiblen Arbeit und meinem eigenen Weg. Genau diese Begrenzung ist auch meine Stärke: Ich kann nur verantwortungsvoll über Männlichkeit im Wandel sprechen, weil ich sie von innen kenne.
Wenn im öffentlichen Diskurs von „weiblicher Führung“ (Female Leadership / Embodied Female Leadership) die Rede ist, sehe ich darin kein Ziel, sondern ein Symptom einer Verschiebung. Ich selbst spreche nicht von weiblicher Führung als Konzept, sondern von femininer Weisheit als Qualität, die im gesellschaftlichen Miteinander sichtbar und wirksam werden darf – jenseits von Etiketten und Rollenbildern.
Begriffsklärung: Maskulin, Feminin, Männlich, Weiblich
Ich erlebe immer wieder, dass diese Begriffe verwechselt werden. Dir mag vieles klar sein – und doch merke ich in Gesprächen, wie schnell Missverständnisse entstehen. Genau deshalb stelle ich am Anfang kurz klar, wie ich die Begriffe hier verwende: nicht als Neudefinition, sondern als Arbeitsbegriffe, damit wir im selben Feld sprechen.
Wenn ich von maskulinen und femininen Qualitäten spreche, meine ich keine Klischees und keine Zuschreibungen an Geschlechter. Es ist ein Denkmodell aus der Polaritätslehre: archetypische Grundkräfte, die jenseits des Geschlechts in jedem Menschen wirksam sein können.
Shiva–Shakti als Bild
- Shiva: Bewusstsein, Stille, Klarheit, Struktur.
- Shakti: Leben, Bewegung, Kreativität, Hingabe, Verbundenheit.
Wesentlich ist das Zusammenspiel: Nicht der eine oder der andere Pol, sondern die Spannung dazwischen erzeugt Lebendigkeit, Wachstum und Verbindung.
Saubere Sprache
- Männlichkeit: biografisch, sozial, identitär geprägt.
- Maskulinität: Qualitäten wie Richtung, Struktur, Präsenz, Fokus (Halt, Tempo, Entscheidung).
- Weiblichkeit: biografisch, sozial, identitär geprägt.
- Femininität: Qualitäten wie Empfänglichkeit, Hingabe, Fürsorge, Kreativität, Verbundenheit (Ausdruck, Beziehung, Sinn).
Balance heißt hier nicht Gleichmacherei, sondern wechselseitige Verstärkung: Beide Seiten bleiben erkennbar und ergänzen einander – wie in einem Tanz. Ganzheit entsteht, wenn beides nebeneinander existiert und in Beziehung tritt.
Dominanz statt Ausschluss
Es geht nicht darum, eine Qualität auszuschließen, sondern darum, welche dominant ist und wie sie bewusst in Beziehung tritt. Ein Mann kann feminine Qualitäten verkörpern, eine Frau maskuline – entscheidend ist, dass beide Qualitäten sich begegnen, ergänzen und Spannung erzeugen, anstatt in Konkurrenz zu treten.
Polarität als Spannungsfeld
Ein Bild, das dies verdeutlicht, ist das Atom: Zwischen Kern und Elektronen ist fast nur „leerer Raum“ – und doch hält die Spannung der Kräfte alles zusammen. Ohne diese Spannung gäbe es keine Materie, keine Welt.
Übertragen auf Beziehung: Das Wesentliche ist nicht der eine oder der andere Pol, sondern die dynamische Beziehung dazwischen. Physik spricht von Feldern, Kräften und Anziehung; Mythologie von Shiva–Shakti. Unterschiedliche Sprachen – ein Prinzip: Spannung erzeugt Beziehung, Beziehung erzeugt Welt.
Brücke zu Führung: Wie im Atom hält Spannung das Ganze: Kern (Halt/Richtung) und Elektronen (Bewegung/Ausdruck). Übertragen auf Führung: Maskuliner Halt klärt das Feld, damit feminine Bewegung sichtbar wirken kann.
Vater- und Mutterwunden als kollektiver blinder Fleck
Aus meiner Sicht haben wir als Gesellschaft kaum ein Bewusstsein dafür, dass wir alle mehr oder weniger Vater- und Mutterwunden tragen. Sie sind nicht nur persönliche Themen im Kontext von Beziehung oder Bindung, sondern prägen uns in allen Lebensfeldern: im Beruf, in der Art und Weise, wie wir Sprache benutzen, in Medienbildern, in unserer Kultur.
Wir sind weit entfernt von einer offenen Konversation, in der jemand fragen könnte: Was ist deine Vaterwunde? Was ist deine Mutterwunde? Stattdessen wissen die meisten Menschen nicht einmal, dass es diese Prägungen überhaupt gibt. Anstatt Teil einer öffentlichen Debatte zu sein, bleiben sie im Schatten – und wirken dort umso stärker.
Meine persönliche Prägung
In meinem eigenen Leben wurde dieser blinde Fleck sehr konkret. Ich bin alleine mit einer Mutter aufgewachsen, deren Handlungsweisen stark von einer narzisstischen Struktur geprägt waren – als Folge ihrer eigenen Geschichte von emotionalem und körperlichem Missbrauch durch meinen Großvater. Auf diese Weise bin ich auch indirekt Opfer seiner Gewalt geworden.
In meiner Kindheit hörte ich immer wieder: Männer sind schlecht, enttäuschend oder gefährlich. Für mich entstand daraus unbewusst die Aufgabe, ein „Frauenversteher“ zu sein. Alles, was in unserer Kultur heute als „toxische Männlichkeit“ bezeichnet wird – das Sammelbecken von Aggression, Dominanz und Rücksichtslosigkeit – habe ich abgelehnt und verachtet. Mit der Konsequenz, dass ich mich auch von jener essenziellen Lebensenergie abgeschnitten habe, die hinter diesen oberflächlichen Verhaltensmustern liegen.
Im Learning Love nennen wir diese Dynamik die Kastrationswunde: Das männliche Prinzip wird entwertet und abgeschnitten, bevor es überhaupt reifen kann. Genau diese Beschämung macht es so schwer, eine gesunde maskuline Kraft zu entwickeln und in Beziehung zu bringen.
Das führte nicht nur zu dysfunktionalen Liebesbeziehungen, sondern auch zu einem schwierigen Verhältnis zu Männern. Immer wieder versuchte ich, meiner Mutter zu beweisen: Schau her, ich bin anders. Ich bin so ein Mann, wie du ihn dir gewünscht hättest. Dahinter stand der tiefe Wunsch nach Liebe und Anerkennung – ein Wunsch, der so nie erfüllt wurde.
Das gesellschaftliche Vakuum: Funktionieren statt Fühlen
Beschämung statt Ausdruck
Beschämung männlicher Verhaltensweisen oder das was wir für Männlichkeit halten sind keine private Ausnahme. In meiner Arbeit mit Männern – in Gruppen, Seminaren und Sessions – treffe ich immer wieder auf dieselben Muster: Konkurrenzdruck, Scham, das ständige Gefühl, funktionieren zu müssen. Räume, in denen Verletzlichkeit und Emotionalität Platz haben, sind extrem rar. Solange wir keine wirklich traumainformierte Kultur leben, bleibt vieles davon unsichtbar.
Vom Narrativ zur Struktur
Über Generationen haben wir ein Bild von Stärke genährt, das sich mit Dominanz, Machterhalt und Kontrolle verbindet – körperlich, ökonomisch und kognitiv. Aus diesem Narrativ sind patriarchale Strukturen erwachsen, die Männern historisch klare Vorteile verschafft haben. Ich nenne das die Religion der Funktionalität: Wert erhält, wer leistet, aushält, optimiert. Dieses System läuft heute weitgehend selbstständig, entkoppelt von einzelnen Absichten – und entfremdet uns alle von Fühlen, Beziehung und Embodiment.
“The patriarchy doesn’t just hurt women… it’s a system that doesn’t do well by a lot of people, everybody included.”
„Das Patriarchat schadet nicht nur Frauen… es ist ein System, das vielen – im Grunde allen – nicht gut tut.“ – Esther Perel
Emanzipation: Fortschritt und Nebenwirkung
Die Emanzipation der letzten hundert Jahre war ein Meilenstein: Frauen haben sich ökonomische Unabhängigkeit und gesellschaftliche Teilhabe erkämpft und gezeigt, dass sie innerhalb dieser Funktionslogik alles tragen können. Die unbeabsichtigte Nebenwirkung: Gerade weil vieles „funktioniert“, wird im Kontext von Wohlstand deutlicher, was fehlt – gelebte maskuline Präsenz, die Sicherheit und Orientierung gibt, damit feminine Qualitäten nicht nur mitlaufen, sondern prägend wirken dürfen. Für viele Männer stellt sich damit die Sinnfrage jenseits von Ernährerrolle und Status; für viele Frauen bedeutet der Erfolg im gleichen Paradigma einen hohen Preis in Form von Erschöpfung. Der öffentliche Ruf nach „weiblicher Führung“ und die Debatte um „toxische Männlichkeit“ entstehen vor diesem Hintergrund – sie benennen echte Schmerzen, ersetzen aber nicht automatisch den notwendigen Systemwandel.
Das Vakuum gesunder maskuliner Präsenz
Fehlt geerdete, beziehungsfähige maskuline Präsenz, übernehmen Frauen oft aus Notwendigkeit Struktur und Führung – mit großem Energieeinsatz und häufig auf Kosten eigener, femininer Qualitäten. Daraus entsteht ein subtiler Konkurrenzmodus, der Entspannung, Empfangsbereitschaft und tiefe Polarität ausbremst. Kurz gesagt: Das System entfremdet beide Seiten von ihren eigentlichen Qualitäten und blockiert Integration.
Führung als maskulines Prinzip – und die Qualität von Maskulinität
Führung verstehe ich als maskulines Prinzip – unabhängig davon, wer führt. Oft wird das mit Dominanz, Macht und Statuserhalt verwechselt. Führung klärt Richtung, Tempo und Rahmen, statt Menschen zu kontrollieren. Entscheidend ist deshalb nicht, ob maskulin geführt wird, sondern womit: mit Halt statt Kontrolle, mit Einladung statt Überformung, mit Respekt, damit feminine Weisheit sichtbar prägen kann.
Polarität ist sequentiell
Ich kann nicht gleichzeitig klar führen und frei verspielt sein. Führung braucht Präsenz, Richtung, Halt; freier Ausdruck, Verspieltheit und starke Emotionalität brauchen gehaltenen Raum. Beides gehört zusammen – nacheinander oder zwischen Personen, nicht gleichzeitig in einer.
“If I’m masculine, I will fantasize experiences that draw out the feminine… If I’m more feminine, I will fantasize experiences that emphasize the masculine in me.”
„Wenn ich eher im Maskulinen bin, fantasiere ich Erfahrungen, die das Feminine herauslocken… Bin ich eher im Femininen, fantasiere ich Erfahrungen, die das Maskuline in mir betonen.“ – Esther Perel
Was wirklich fehlt: Eine neue Qualität von Maskulinität
Was aus meiner Sicht fehlt, ist nicht „mehr Leadership“ oder „mehr Female Leadership“, sondern eine neue Qualität von Maskulinität, mit der geführt wird. Leadership ist ein maskulines Prinzip: Es klärt Richtung, Tempo und Rahmen – unabhängig davon, wer führt. Die Frage ist deshalb nicht ob maskulin geführt wird, sondern womit: mit Halt statt Kontrolle, mit Einladung statt Überformung, mit Respekt, damit feminine Weisheit sichtbar prägen kann.
In meiner Praxis – besonders in der Begleitung von Paaren – erlebe ich, wie entscheidend es ist, dass Maskulinität Verantwortung für Präsenz, Halt und Richtung übernimmt. Bleibt dieser Raum leer, werden Menschen in die Lücke gezogen; häufig sind es Frauen. Traumainformiert gedacht heißt das: Der Rahmen reguliert. Wenn Leadership als maskulines Prinzip Sicherheit im Nervensystem ermöglicht, kann feminine Weisheit sichtbar werden. Polarität ist sequentiell: Wer den Rahmen hält, muss nicht alles steuern; wer gestaltet, muss nicht alles kontrollieren.
Renaissance der Initiation – Männer auf dem Weg
Ermutigend ist, dass immer mehr Männer Räume suchen – Kreise, Retreats, Initiationsarbeit –, um Reife nachzuholen, Schmerz zu fühlen und Verantwortung zu übernehmen. Unbestritten bleibt: Unter patriarchalen Strukturen haben Frauen historisch am meisten Leid und Ausschluss getragen.
Was Integration hier bedeutet
Integration heißt: die kollektive Verletzung anerkennen, den Schmerz halten und zugleich nicht in Scham und Schuld versinken. Erst wenn wir aus dem kollektiven Schulderleben aussteigen, werden Präsenz, Halt und Raum überhaupt möglich. Traumainformiert formuliert: Wer in Scham feststeckt, kann keinen Rahmen halten.
Was in Männerkreisen (und gemischten Gruppen) geübt wird
In Männerkreisen lernen wir, gemeinsam anwesend zu bleiben – damit wir Schmerz halten können, statt ihm auszuweichen; wir üben, aus Scham/Schuld auszusteigen, um Halt, Richtung und Raum zu schenken. Ähnliches zeigt sich auch in gemischten Gruppen: Wenn maskuliner Halt spürbar wird, kann sich feminine Weisheit zeigen. Vergebung und Heilung ergeben sich häufig im Prozess – ganz ohne Nachhelfen.
Wohin das führen darf
Zu beziehungsfähiger Polarität: maskuliner Halt reguliert, feminine Weisheit prägt; Sicherheit im Nervensystem macht Nähe, Klarheit und Verantwortung möglich. Das ist der Boden, auf dem Kultur sich verändert – Schritt für Schritt.
Das Dilemma der modernen Männlichkeit – zwischen Anpassung und Überforderung
Ich schreibe das als Mann. Viele Paradoxien, die ich hier benenne, erlebe ich von innen – ich kann nicht für Frauen sprechen.
Worum es zentral fehlt
Vieles, was wir Männer über Fürsorge, Verbindung und Beziehungsfähigkeit lernen, kommt aus einer weiblichen Perspektive. Das ist nicht falsch – aber es lässt uns oft ohne ein eigenes emotionales Alphabet zurück: keine Sprache für Gefühle, kaum Räume zum Üben von Benennen, Fühlen, Regulieren.
In vielen Familien bekommen Jungen keinen Kontext für Gefühle. Früh wirkt (meist gut gemeint) die Botschaft: „Verletzlichkeit = Schwäche“. Aus dieser Prägung heraus wird Gefühlsraum nicht angeboten, gleichzeitig wird später Verletzlichkeit eingefordert. Das ist keine Anklage; es beschreibt eine kulturelle Vererbung, die Verletzlichkeit beschämt statt belohnt.
Doppelbotschaften – überall
In Arbeitswelt und Führungsetagen ist für Emotionalität kein Raum. Dort gelten weiterhin die alten Männlichkeitsnormen: Funktionieren, Kontrolle, Durchhalten. Zuhause sollen wir dann verletzlich und sprachfähig sein – häufig ohne dass wir gelernt haben, wie das geht. Gleichzeitig wird sogenanntes „toxisch-männliches“ Verhalten zurecht kritisiert. Ergebnis: permanente Doppelbotschaften – von uns werden zwei Dinge gleichzeitig verlangt: Unverwundbarkeit im System und Verletzlichkeit in Beziehungen.
“To know love, men must be able to let go of the will to dominate.”
„Um Liebe zu kennen, müssen Männer die Absicht zu dominieren loslassen.“ – Bell Hooks
Popkultur als Verstärker
Ein Beispiel dieser Woche: In einem Trailer für eine romantische Komödie sah ich das Klischee schlechthin – ein beneidenswert gut durchtrainierter Cowboy, der im Sonnenuntergang sein Pferd wäscht; Zeitlupe, Wasser rinnt über den nackten Körper, die Kommentarspalten feiern den Sex-Appeal. Wäre das geschlechtervertauscht, wüssten wir alle, welcher Shitstorm losbräche. Auch das ist eine Doppelbotschaft: Wir sollen Objekt sein und zugleich subjektfähig fühlen und sprechen.
Die Belohnungslogik dahinter
Wir orientieren uns an dem, was belohnt wird. In der sogenannten „Religion der Funktionalität“ wird noch immer das Unterdrücken von Gefühlen honoriert: leistungsfähig, kontrolliert, unverwundbar. Diese Logik prägt Männer, Frauen und Organisationen gleichermaßen.
Kein Opfernarrativ – ein strukturelles Dilemma
Ich zeichne Männer nicht als Opfer. Es geht um ein strukturelles Dilemma, das alle betrifft: Eine Kultur, die Verletzlichkeit beschämt, fordert sie zugleich ein – aber ohne sichere Räume, Vokabular und Praxis. Darum plädiere ich nicht für „mehr Führung“ oder die einfache Antwort „Female Leadership“, sondern für Weisheit und Rahmen: maskuliner Halt (Richtung, Tempo, Struktur), der Sicherheit im Nervensystem ermöglicht, damit feminine Weisheit sichtbar prägen kann.
Weil wir dieses Defizit so stark spüren, wirkt „weibliche Führung“ wie die naheliegende Lösung – tatsächlich brauchen wir keine Etiketten, sondern Weisheit, die wirkt, in Räumen, die halten.
Frauen in Führungsrollen – und warum das allein das System nicht heilt
Ich habe große Wertschätzung für jede Frau, die Führung übernimmt – ohne diesen Mut wären viele Lücken gar nicht geschlossen worden. Mein Punkt ist ein anderer: In patriarchal codierten Strukturen bekommt das Feminine – Empfänglichkeit, Spürsinn, Beziehung als Ressource, zyklische Prozesslogik – oft keinen echten Schutzraum. Dann wird „Female Leadership“ oder sogar „Embodied Female Leadership“ im Alltag zur männlich codierten Leistung in weiblicher Besetzung. Der große Verlust für uns alle ist nicht, dass Frauen führen, sondern dass das Feminine selbst zu wenig Platz hat, sichtbar und wirksam zu sein.
Immer wieder begegne ich – in Coachings, Seminaren, im Austausch – der Vorstellung, dass mit mehr Frauen in Führungspositionen alles besser, gerechter, menschlicher würde. Diese Hoffnung kann ich gut nachvollziehen; ich habe sie selbst lange geteilt.
Meiner Auffassung nach liegt das Problem nicht im Geschlecht der Führungskraft, sondern in den Spielregeln und Strukturen, in denen Führung stattfindet. Es geht mir daher nicht um ein Gegenargument zu Frauen in Führung, sondern um eine Strukturfrage: Wie schaffen wir Rahmen, in denen weibliche Führung nicht zur Anpassungsleistung wird, sondern in denen feminine Qualitäten wie Empfänglichkeit, Spürsinn, Beziehung als Ressource und eine zyklische Prozesslogik tatsächlich wirken dürfen – weil sie so dringend gebraucht werden? Auf meinem eigenen Weg in maskuline Präsenz habe ich erst begriffen, welch großer Schatz das Feminine ist. Deshalb halte ich es für essenziell, dass wir als Gesellschaft Räume schaffen, in denen diese Qualität ohne Abstriche wirken kann.
“Leadership is not defined by the exercise of power but by the capacity to increase the sense of power among those led. The most essential work of the leader is to create more leaders.”
„Führung definiert sich nicht durch Machtausübung, sondern durch die Fähigkeit, das Kraftempfinden der Geführten zu stärken. Die wichtigste Aufgabe einer Führungskraft ist es, mehr Führungskräfte hervorzubringen.“ – Mary Parker Follett
Sobald Frauen klassische Führungsrollen übernehmen, geraten sie oft in massiven Anpassungsdruck. Sie müssen sich in Systemen behaupten, die auf alten patriarchalen Spielregeln beruhen. Die Folge: Feminine Qualitäten wie Fürsorglichkeit, Intuition, Empfänglichkeit werden zurückgestellt, unschätzbar wertvolles Potenzial gehen verloren, das System bleibt unverändert.
Viele Frauen können alles managen, alles organisieren – und fühlen sich doch erschöpft, getrieben oder dauerhaft angespannt. Männer wiederum erleben Unsicherheit, denn das alte Bild vom starken Macher passt nicht mehr, das Neue ist aber noch nicht lebbar.
Das Ergebnis: ein Maskenspiel auf beiden Seiten – Frauen übernehmen Härte, Männer geben sich weich oder verlieren die eigene Richtung. Begegnung wird selten echt, sondern zum Spiel mit Erwartungen. Teams, Partnerschaften, Familien: Überall wirkt diese Dynamik.
Darum geht es mir bei „Female Leadership“ bzw. „Embodied Female Leadership“: nicht um Quote oder Austausch, sondern um Strukturen, in denen weibliche Führung wirken darf, ohne sich verkleiden zu müssen. Ich plädiere also nicht fürs Ersetzen, sondern für Ergänzung und Strukturwandel: Erst wenn Führung maskulinen Halt und feminine Verbundenheit zugleich ermöglicht, verliert das Patriarchale seine Prägung – und das Feminine bekommt den Raum, den es braucht.
Kollektive Überforderung und die Sehnsucht nach einem neuen Miteinander
Beide Geschlechter tragen schwer: Frauen schultern die Last von Leistung, Familie, Beziehung; Männer zahlen für vermeintlichen Status oft mit Einsamkeit, Isolation, innerer Leere. Das ist kein individuelles Versagen, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger kultureller und systemischer Überforderung. Eine traumainformierte Haltung könnte hier ein Kompass sein: Sie fragt nicht zuerst „Wer hat recht?“, sondern „Was braucht es, damit Nervensysteme sicher werden und Beziehung möglich ist?“
Die tiefe Sehnsucht hinter dem Ruf nach mehr weiblicher Führung ist für mich weniger ein Wunsch nach Austausch, sondern nach Ergänzung: Es geht darum, neue Qualitäten einzuladen und das, was bereits da ist, aus dem Schatten ins Licht zu holen.
Keine Personalunion – sondern bewusste Polarität und Raum für Qualitäten
Der aktuelle Lösungsansatz, alles in einer Person vereinen zu wollen, ist aus meiner Perspektive gescheitert. Frauen haben gelernt, beides zu leisten, Männer versuchen, beides zu sein – und beide Seiten geraten an die Grenzen ihrer Kraft.
Was es braucht – und das wird in den Ansätzen von G. S. Youngblood („The Masculine in Relationship: A Blueprint for Inspiring the Trust, Lust, and Devotion of a Strong Woman“) oder John Wineland („From the Core“) sichtbar – ist das bewusste Zulassen und Einladen beider Qualitäten im Raum.
Es geht nicht darum, dass Frauen männlicher oder Männer weiblicher werden. Es geht darum, dass beide Qualitäten – Klarheit, Struktur, Präsenz und Empfänglichkeit, Kreativität, Spürigkeit – nebeneinander existieren dürfen. Hier liegt der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Führung: Die eine rahmt, die andere erfüllt.
Führung wird so zum Halten von Räumen: Wer die Richtung hält, muss nicht alles steuern. Wer gestaltet, muss nicht alles kontrollieren. So entsteht Polarität, und in dieser Spannung zeigt sich die eigentliche Kraft des Neuen. Das ist Integration in Aktion.
Sicherheit für Verbindung – was wir wirklich suchen
Wenn ich auf das große Ganze schaue, wird für mich immer klarer: Die Dynamiken, die wir als Gesellschaft erleben, spiegeln sich auf der Ebene unseres Nervensystems. Für Verbindung braucht es Sicherheit – im Großen wie im Kleinen.
“In organizations, real power and energy is generated through relationships… more important than tasks, functions, roles, and positions.”
„In Organisationen entstehen wirkliche Kraft und Energie durch Beziehungen – wichtiger als Aufgaben, Funktionen, Rollen und Positionen.“
Wirkliche Verbindung entsteht erst dann, wenn unser Nervensystem Sicherheit spürt. Die Polyvagaltheorie beschreibt, dass unsere Fähigkeit zu Beziehung, zu echter Nähe und Offenheit davon abhängt, ob wir uns körperlich sicher fühlen. Erst im ventral-vagalen Zustand werden Vertrauen, Neugier und echte Begegnung möglich. Das erklärt, warum viele Bemühungen um mehr Miteinander, Kooperation oder Intimität ins Leere laufen, solange unterschwellige Unsicherheit oder Stress dominiert.
Das Feminine – das Kreative, Sinnliche, Beziehungsstiftende – kann sich nur entfalten, wenn es gehalten, gespiegelt und sicher umrahmt wird. Erst aus dem Halt und der Klarheit des Maskulinen entsteht jener Raum, in dem das Leben wirklich tanzen kann.
Patriarchat, hier kurz gefasst: historisch gewachsene Vorrangstellung von Kontrolle vor Beziehung; es hielt vieles am Laufen und ent-lebendigte oft das Menschliche. Unsere Aufgabe ist nicht der Kampf gegen ein Wort, sondern das Wiederlernen von Sicherheit als sozialem Feld.
Ausblick: Wandel als Einladung
Wir leben heute in einer Zeit radikalen Wandels. Das Zeitalter der KI wird gesellschaftliche Strukturen weiter aufbrechen, vieles infrage stellen. Darin liegt eine Chance: Muster zu hinterfragen, neue Wege zu erproben, die Sehnsucht nach echter Verbindung, Sinnlichkeit und Zugehörigkeit neu zu entdecken.
Gerade jetzt erscheint mir eines zentraler denn je: Freundschaft mit dem eigenen Nervensystem. Was bedeutet für mich persönlich Sicherheit? Wann spüre ich echte Verbindung – zu mir, zu anderen, zu meinem Umfeld?
Diese Fragen sind keine rein mentalen Konzepte, sondern reichen tief ins Körperliche. Verbindung geschieht nicht im Kopf, sondern in der Tiefe unseres Körpers – immer dann, wenn wir uns sicher fühlen.
Deshalb ist es essenziell, genau dort wieder anzusetzen: Auf individueller Ebene, im Miteinander von Partnern, Eltern, Kindern, Kolleginnen, Weggefährten. Wir können lernen, einander Sicherheit zu geben, Zeichen der Verbindung zu lesen, uns gegenseitig in unserer Menschlichkeit zu spiegeln. Das ist eine Kulturleistung, die neu geübt werden will – und deren Wirkung weit über den privaten Raum hinausgeht.
Trotz der Überforderung, die uns im Alltag begegnet, erlebe ich überall mehr Menschen, die bereit sind, neue Wege zu gehen, die Komfortzone zu verlassen, ehrlich zu fühlen, zu teilen, zu wachsen. Veränderung entsteht da, wo Unsicherheit wächst, wo Fragen lauter werden. In diesen Momenten sehe ich mehr und mehr ausgestreckte Hände, mehr Mut, sich verletzlich zu zeigen – und mein Mantra bleibt: Verletzlichkeit beginnt immer bei dir. Wenn du die Einladung aussprichst, entsteht ein Raum, in dem wir uns begegnen können.
So wird aus dem Tanz von Shakti und Shiva – aus Verbindung und Struktur, Hingabe und Klarheit – ein neues gemeinsames Leben möglich.
Führung als Forschungsfeld und Einladung
Um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung, wie eine Lösung auf gesellschaftlicher Ebene aussehen könnte. Was ich aber beschreiben kann, ist das, was sich im persönlichen, kleinen Rahmen zeigt – besonders in meiner aktuellen Partnerschaft
Gerade in unserer Partnerschaft beobachten wir, wie schnell der Verstand versucht, die Führung zu übernehmen: Muster springen an, wollen funktionieren, Erwartungen erfüllen. Führung wird dann zum inneren Antreiben, nicht zur Einladung. Genau an diesen Punkten ist es essenziell, innezuhalten, das Tempo zu reduzieren, ehrlich zu spüren, ob wir präsent und verbunden sind.
Allein schon die Absicht, diesen Raum entstehen zu lassen, und das Verständnis, dass echte Begegnung dort beginnt, wo niemand funktionieren muss, ist für mich Ausdruck maskuliner Klarheit. Es geht nicht um Kontrolle, sondern um die Verantwortung, einen Rahmen zu halten, in dem das Feminine sich sicher fühlt und sich entfalten kann. Und ich erinnere mich immer wieder daran: Nur wenn ich selbst Verantwortung für meine Gefühle und meine Muster übernehme, kann ich dieses Feld wirklich öffnen. Nur so entsteht ein Raum, in dem beide Qualitäten wirksam sein dürfen – und in dem das Nervensystem den Takt vorgibt, nicht der alte Reflex nach Kontrolle.
Beides im Blick zu behalten – die eigene innere Arbeit und das Halten des Raumes für den anderen – ist für mich die tägliche Herausforderung und das eigentliche Forschungsfeld von Leadership als gelebter Polarität.
Persönlicher Abschluss – Vision, Praxis und meine Rolle
Am Ende rufe ich nicht nach mehr Female Leadership, sondern nach femininer Weisheit. In meiner Beziehung erlebe ich sie immer dann, je mehr ich in meine maskuline Präsenz hineinwachse und in den Momenten, in denen ich dort bleiben kann. Dann entfaltet sich das Weibliche rückhaltlos; Führung wird zu gelebter Polarität: Inspiration und Struktur, Hingabe und Klarheit, gleichzeitig wirksam. Ich bin damit auf dem Weg, nicht am Ziel.
Mir ist bewusst, dass vieles hiervon wie eine Utopie klingt. Ich orientiere mich an der Idee von Simon Sinek: Ich stelle mich hier und jetzt als Wegbereiter dafür zur Verfügung, dass diese Utopie eine Chance bekommt. Das ist meine Vision: meinen Teil dazu beizutragen, dass sie Wirklichkeit werden darf, in dem Bewusstsein, dass ich das Ergebnis wahrscheinlich nicht erleben werde. Daraus speist sich meine Sinnhaftigkeit.
Dafür halte ich an einem Kern fest: Freundschaft mit dem Nervensystem. Aus einer traumainformierten Haltung ist sie für mich der Schlüssel über all diese Themen hinweg, die wir in einem Text nur unvollkommen benennen können. Ein Artikel bleibt ein mentaler Raum; echte Veränderung geschieht im Körper, in Praxis: atmen, Tempo reduzieren, prüfen, ob unsere Nervensysteme synchron sind, Verantwortung für die eigenen Gefühle übernehmen, Erwartungen ehrlich benennen. Schritt für Schritt.
“When a woman tells the truth she is creating the possibility for more truth around her.”
„Wenn eine Frau die Wahrheit sagt, schafft sie die Möglichkeit für mehr Wahrheit um sich herum.“ – Adrienne Rich
Nicht Ersetzen, sondern Ergänzen. Nicht mehr Rollen, sondern mehr Qualität. Nicht „Female Leadership“ als Etikett, sondern feminine Weisheit, die wirken darf – in einem Feld, das maskuline Präsenz hält.
FAQ:
Was ist der Unterschied zwischen „maskulin/männlich“ und „feminin/weiblich“?
Männlich/Weiblich bezieht sich auf Geschlecht/Identität.
Maskulin/Feminin beschreibt Qualitäten/Polaritäten (z. B. Richtung/Halt vs. Ausdruck/Bewegung). Alle Menschen haben beide Qualitäten – in unterschiedlicher Ausprägung.
Warum ist „Female Leadership“ nicht dasselbe wie „feminine Weisheit“?
Leadership ist hier als maskuline Qualität verstanden (Richtung, Tempo, Rahmen). Wird sie von einer Frau verkörpert, bleibt sie maskulin – das ist Polarität, nicht „feminine Weisheit“. Feminine Weisheit meint Empfänglichkeit, Beziehung, Spürsinn, Kreativität.
Führung als maskulines Prinzip – unabhängig vom Geschlecht: Was heißt das?
Führen heißt Richtung, Tempo, Rahmen klären. Das ist eine maskuline Qualität, die jede Person verkörpern kann. Geschlecht ≠ Qualität.
Was bedeutet Polarität konkret?
Polarität ist Spannung zwischen zwei Prinzipien:
– Halt/Richtung (maskulin)
– Bewegung/Ausdruck (feminin)
Diese Spannung hält Systeme lebendig (Atom-Bild: Kern ↔ Elektronen). Sequentiell, nicht simultan: Man kann nicht gleichzeitig klar führen und irrational verspielt sein.
Warum spricht der Text von „zwei Prinzipien“ der Welt?
Weil sich viele Dynamiken auf Halt/Richtung und Bewegung/Ausdruck zurückführen lassen. Ob in Beziehungen oder Organisationen: Beides wird gebraucht – Halt macht Sicherheit spürbar, Bewegung bringt Leben ins Feld.
Quellen
- Mary Parker Follett: Dynamic Administration. Harper, 1941. Quelle
- Esther Perel: Interview, 2018. Quelle
- Esther Perel: Podcast Where Should We Begin?, 2017. Quelle
- bell hooks: The Will to Change. Atria Books, 2004. Quelle
- Margaret J. Wheatley: Leadership and the New Science. Berrett-Koehler, 1992. Quelle
- Adrienne Rich: Speech, 1976. Quelle