Muskeln, Trauma und das göttliche Engineering

Lesedauer 6 Minuten

Warum Trauma-Heilung und Physiotherapie demselben Heilungsprinzip folgen

Einleitung

Warum solltest du diesen Artikel lesen?
Weil er dich daran erinnert, dass Heilung weder Zufall noch reiner Wille ist, sondern einem tiefen Prinzip des Lebens folgt.

Was erwartet dich hier?
Eine persönliche Erfahrung, die zeigt, wie körperliche Verletzungen und seelische Prozesse denselben Gesetzmäßigkeiten unterliegen – und warum Staunen, Geduld und Vertrauen so wichtig sind.

Ein kleiner Unfall, große Wirkung

Vor einigen Monaten habe ich mir bei einer unscheinbaren Ausgleichsbewegung die Schulter verletzt. Kein großer Unfall, kein dramatisches Ereignis. Ich stand auf einer Kiste, verlor kurz das Gleichgewicht – und in diesem Moment setzte der Reflex ein. Mein Arm schnellte hoch, zog den Körper in Balance, verhinderte den Sturz.

Ohne diesen Reflex wäre ich sicher gefallen. Und ein Sturz hätte sehr wahrscheinlich deutlich größere Schäden verursacht. Der Körper weiß das instinktiv. Darum ist es ein Reflex – kein Nachdenken, sondern unmittelbarer Schutz.

Doch genau in dieser erfolgreichen Ausgleichsbewegung geschah es: Der Reflex, der mich vor Schlimmerem bewahrte, führte gleichzeitig zu einer Verletzung im Arm.

Am Anfang war der Schmerz brachial. Nach einigen Tagen wurde er etwas leichter, und mit dieser ersten Abnahme kam der Gedanke: „Ach, so schlimm ist es nicht.“ Ich war mitten im Umzug, am Ausmisten, völlig eingespannt. Für einen Arztbesuch hatte ich keine Kapazität. Also biss ich die Zähne zusammen und machte weiter.

Nach ein paar Tagen fühlte es sich nicht mehr ganz so schlimm an. Doch mit der Zeit, Wochen später, zeigte sich die andere Seite: Der Schmerz blieb. Er begann sich zu verfestigen. Was erst wie ein vorübergehendes Problem wirkte, entwickelte sich zur Chronifizierung.

Die Falle der Relativierung

Genau hier liegt eine Falle, die wir auch aus inneren Prozessen kennen:
Wir neigen dazu zu sagen „So schlimm ist es ja gar nicht“ oder „Das geht schon wieder von allein weg“. Wir suchen Abkürzungen. Wir wollen nicht „so ein Aufhebens“ darum machen.

Aber genau das führt oft dazu, dass etwas chronisch wird – ob im Körper oder im Inneren. Aus einem körperlichen Schmerz kann innerer Schmerz werden, wenn wir ihm keine Aufmerksamkeit schenken. Und umgekehrt: seelische Belastungen finden häufig ihren Ausdruck im Körper, in Verspannungen, Schmerzen oder Erschöpfung.

Gabor Maté beschreibt das in seinem Buch „When the Body Says No“ so:

„Wenn wir die Sprache unserer Gefühle nicht hören, wird der Körper sie für uns sprechen.“

Verhärtung und Intelligenz

In der Physiotherapie erklärt mir meine Therapeutin: „Ein Muskel übernimmt hier eine Aufgabe, für die er nicht gemacht ist. Andere Muskeln verhärten, um zu schützen, um Schmerz zu vermeiden. Sie ziehen sich zusammen, werden hart – und schmerzen noch mehr.“

Innerlich muss ich schmunzeln. Denn genau das erlebe ich tagtäglich in meiner Arbeit mit Menschen. Das Wissen, das meine Physiotherapeutin mir vermittelt, ist im Grunde das Gleiche, das ich selbst in Bezug auf Traumafolgen und Heilung weitergebe.

Ein Erlebnis trifft uns. Ein Reflex schützt uns. Unser Nervensystem reagiert sofort, ohne dass wir bewusst eingreifen.
Vielleicht bedeutet das: Wir erstarren für einen Moment. Wir halten den Atem an. Oder ein Teil von uns zieht sich zurück, während andere Anteile übernehmen und „stark sein“ müssen.

Das ist die Logik der Überlebensreaktionen: Sie schützen uns in einer Situation, die unser System als potenziell bedrohlich erlebt. Sie sind nicht falsch, sondern hochintelligent. Doch wenn diese Muster dauerhaft bleiben, entstehen Trauma-Folgestörungen: Anspannung, Vermeidung, innere Verhärtung, manchmal auch emotionale Taubheit.

Im Körper zeigt sich das als chronische Verspannung oder Schmerz. Im Inneren als das Gefühl, nicht frei atmen oder fühlen zu können. In beiden Fällen wird Energie gebunden, die eigentlich ins Leben fließen könnte.

Und genau hier liegt das Faszinierende: Dieselben Prinzipien, die meinen Arm schützen, erklären auch, wie der Heilungsprozess nach Trauma funktioniert. Schutz, Balance, Dysbalance und Integration sind universelle Prinzipien – körperlich wie psychisch.

Mit uns ist nichts falsch

Oft haftet dem Wort Trauma etwas Bedrohliches, Düsteres oder Schweres an. Doch wenn wir genauer hinschauen, zeigt sich etwas anderes: Mit uns ist nichts falsch.

Ein Reflex schützt uns. Eine Überlebensreaktion hält uns in Balance. Unser System reagiert, um uns vor größerem Schaden zu bewahren. Darin liegt eine große Verletzlichkeit – und zugleich eine tiefe Intelligenz.

Trauma ist nicht nur Schmerz, es ist oft eine eingefrorene Lebensenergie, ein angehaltenes, nicht vollendetes Reaktionsmuster — so beschreibt es Peter Levine im Somatic Experiencing:

„Gelingt es dem Menschen, nach einer Traumatisierung oder Überwältigung der Selbstregulation wieder Zugang zu ihren ursprünglichen, angeborenen, lebenswichtigen Reaktionsmöglichkeiten zu finden – Kampf, Flucht, Orientierung und soziale Bindung – können sie ihre volle Lebensenergie zurückgewinnen, die zum Zeitpunkt der Überwältigung nicht zur Verfügung stand, bzw. eingefroren ist.“

Ein wesentlicher Bestandteil meiner Begleitung — und auch eine immer wiederkehrende Erinnerung für mich selbst — ist diese wohlwollende Haltung: mich nicht gegen die Reaktionen meines Körpers oder meiner Psyche zu wenden, sondern sie als Teil eines größeren Prinzips anzunehmen. Hier wirkt göttliche Intelligenz, die sich in Schutz und Anpassung zeigt.

Das Ziel ist nicht, diese Reaktionen zu verurteilen, sondern Schritt für Schritt wieder ins Fließen zu kommen — weich zu werden, den Körper wieder unbeschwert genießen zu dürfen, Bewegungen frei und ohne Einschränkung erleben zu können.

Für mich bedeutet Heilung genau das: mich als Teil dieses lebendigen Prinzips zu erfahren — in Balance von Wohlwollen und Disziplin, im Vertrauen darauf, dass Lebensfreude, Bewegung und Weichheit wieder möglich sind.

Verantwortung und Unterstützung

Wichtig ist für mich auch diese Erkenntnis: Ich könnte das nicht allein.
Nur weil ich die Prinzipien verstehe, heilt mein Arm nicht von selbst. Ich brauche das Fachwissen, die Anleitung meiner Physiotherapeutin, die mich gezielt unterstützt.

Und selbst mit dieser Begleitung dauert es lange. Heilung braucht beides: Zeit und Geduld.

Genau so ist es auch bei seelischen Verletzungen und Trauma-Folgestörungen: Der Weg aus innerem Schmerz zurück in die Balance gelingt meist nicht allein, sondern im Zusammenspiel von Eigenkraft und Begleitung.

Mobilisierung und Integration

Es ist doch erstaunlich, wie einfallsreich das Leben ist. Im Grunde begegnet uns überall dasselbe Prinzip – nur in unterschiedlichen Facetten und Geschmacksrichtungen. Für mich ist das genau das, was ich „göttliches Engineering“ nenne.

In der Physiotherapie zeigt es sich so: Schritt für Schritt gehe ich an die Schmerzpunkte heran, atme in die Bewegung hinein, die der Körper zunächst blockiert. Nicht mit Gewalt, sondern dezent, achtsam, immer wieder – bis sich Anspannung langsam lösen darf.

Und im Inneren geschieht genau dasselbe. Auch dort braucht es die vorsichtige Annäherung an die Stellen, die in Schutzhaltung gegangen sind. Den Atem dabei, das bewusste Dableiben am Punkt der Spannung, ohne Überforderung. Genau in diesem feinen Spiel beginnt Integration: Starrheit wird weich, gebundene Energie darf wieder ins Fließen finden.

So zeigt sich, dass Spannung, Anspannung und Balance einem universellen Prinzip folgen. Außen wie innen, körperlich wie seelisch. Das Staunen darüber begleitet mich immer wieder neu.

Staunen und Vertrauen

Für mich ist das ein Beispiel für göttliches Engineering – oder, wie ich es auch nenne, das Fürsorgeprinzip des Universums. Immer wieder können wir entdecken, dass dieselben einfachen Prinzipien am Werk sind: das Prinzip der Entstehung, das Prinzip des Schutzes und das Prinzip der Heilung. Sie gelten gleichermaßen bei körperlichen wie bei seelischen Verletzungen, bei äußerem wie bei innerem Schmerz.

Gerade weil diese Prinzipien so schlicht sind, sind sie so wirksam. Und zugleich zeigt sich hier ein großes Staunen: In einer Welt, die hochintellektuell und wissenschaftshörig ist, wissen wir oft erstaunlich wenig über die elementaren Funktionsweisen unserer eigenen Biologie.

Deshalb wiederhole ich es fast mantraartig, weil es für mich der Kern meiner Arbeit ist und das, was ich versuche zu vermitteln:
Biologie verstehen – Liebe leben.

Und damit verbunden auch diese Haltung: Es ist weder Schuld noch Versagen, wenn wir aus der Balance geraten. Es ist Leben. Unsere Verantwortung beginnt dort, wo wir den Weg zurück in die Balance suchen – Schritt für Schritt, im eigenen Tempo, im Vertrauen darauf, dass der Heilungsprozess möglich ist.

Vielleicht magst du beim Lesen innehalten und dich fragen:

👉 Wo in deinem Leben vertraust du darauf, dass die Prinzipien des Lebens wirken – auch wenn es mühsam ist, auch wenn es lange dauert?

Fazit

Heilung ist kein gerader Weg und keine Frage des Willens allein. Sie folgt Prinzipien, die größer sind als wir – Prinzipien von Schutz, Balance und Integration.
Ob körperlich oder innerlich: Mit uns ist nichts falsch. Trauma ist Teil des Lebens und trägt in sich schon die Blaupause der Heilung.

Wenn dich dieses Thema bewegt, spür gern einen Moment nach: Was könnte heute dein kleiner Schritt zurück ins Fließen sein?

FAQ

1. Was ist Trauma eigentlich?

Der Arzt und Autor Gabor Maté beschreibt es so: „Trauma ist nicht das, was uns passiert, sondern das, was in uns passiert.“
Es geht also weniger um das Ereignis selbst, sondern um die Spuren, die es in unserem Inneren hinterlässt: in unserem Körper, in unseren Gefühlen, in unserem Nervensystem.

2. Was bedeutet „Trauma ist eingefrorene Lebensenergie“?

Im Trauma werden Überlebensimpulse – wie Kampf (fight), Flucht (flight) oder Erstarrung (freeze) – aktiviert, aber nicht vollendet. Wenn diese hochgefahrene Energie nicht wieder abgebaut werden kann, bleibt sie im Körper gespeichert. Sie wird gleichsam in den Zellen „eingelagert“ und kann später durch bestimmte Situationen oder Trigger erneut in Gang gesetzt werden.

Weniger bekannt ist eine weitere Reaktion: die Unterwerfungs- oder Fawn-Response. Dabei versucht der Körper – oft reflexartig – durch Anpassung, Besänftigung oder Unterordnung Sicherheit herzustellen. Auch diese Energie kann, wenn sie nicht integriert wird, im System gebunden bleiben.

Genau das erklärt, warum alte Erfahrungen plötzlich so gegenwärtig wirken, als wären sie nie vorbei gewesen.

Integration bedeutet, dass diese gebundene Energie nach und nach wieder in den natürlichen Fluss des Nervensystems zurückfindet. Nicht durch Druck oder Überforderung, sondern durch behutsame Annäherung, Atem, Bewegung und bewusste Präsenz. So kann das, was blockiert war, wieder ins Leben zurückkehren.

3. Warum ist Geduld im Heilungsprozess so wichtig?

Weil unser Nervensystem Zeit braucht, um alte Schutzmuster zu lösen. Heilung geschieht in Wellen, nicht linear. Geduld heißt nicht Passivität, sondern Vertrauen: Auch nach Jahren ist es möglich, dass innere Erstarrung weich wird und Lebensfreude zurückkehrt. Die Möglichkeit zur Heilung bleibt immer bestehen.

4. Kann man Trauma alleine überwinden?

Das ist eine große Frage, über die man ganze Bücher schreiben könnte. Meine Erfahrung: Einige Schritte auf dem Weg gelingen allein. Doch wesentliche Elemente – wie Regulation im Kontakt oder das Erlernen von neuer, sicherer Beziehung – können wir uns nicht selbst beibringen. Ich bin überzeugt: Heilung ist zutiefst relational.
👉 Hier erzähle ich, wie mein eigener Weg aussah.

5. Woran erkenne ich, ob sich eine Belastung chronifiziert hat?

Nicht immer an einem einzigen Symptom. Eher daran, dass Muster bleiben:

  • Du fühlst dich oft getriggert.
  • Viele kleine Situationen oder Begegnungen sind schmerzhaft.
  • Hohe Intensitäten tauchen im Alltag immer wieder auf.

Wenn du diese Wiederholungen bemerkst, ist die Chronifizierung meist schon da. Sie zeigt sich nicht erst, wenn „nichts mehr geht“, sondern lange vorher – in den leisen, wiederkehrenden Spuren.

Eine Heilungsprozess verläuft auch häufig in Wellen, hier findest noch einen weitern Artikel der dieses Thema näher beleuchtet.

Hier schreibt...

Bild von Micha Madhava -

Micha Madhava -

über Trauma, Beziehung und das Nervensystem – für eine traumainformierte Gesellschaft und eine wohlwollende Kultur des Miteinanders.

Meine Texte wachsen aus der Überzeugung, dass Liebe das grundlegende Design des Lebens ist – und dass unser Nervensystem die Sprache ist, in der dieses Design spürbar wird.

Ich schreibe, um Differenzierung zu ermöglichen – in einer Welt, die viele von uns überfordert, emotional fragmentiert oder in Anpassung zwingt.
Meine Impulse laden ein, zurückzufinden: in Kontakt, in Selbstwahrnehmung, in Beziehung.
Denn was uns geprägt hat, muss nicht bestimmen, wie wir leben.

Meine Vision ist eine Gesellschaft, in der Beziehungskompetenz selbstverständlich wird – in Partnerschaft, Elternschaft, Freundschaft und im sozialen Gefüge.
Je besser wir unsere Biologie verstehen, desto tiefer können wir lieben.

Liebe ist das Design. Das Nervensystem ist die Sprache. Integration die Richtung.

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