Eine Selbstreflexion und ein Plädoyer über Verletzlichkeit, den Mut, unbequem zu sein, gelebte Gewaltfreiheit und die Ethik jener, die Räume halten und Sicherheit versprechen.
Kontext zuerst: Worum es mir bei Verletzlichkeit geht
Bevor ich irgendetwas anderes sage: Kontext entscheidet.
Der Raum, in dem ich als Begleiter Prozesse halte, ist ein anderer als der ganz normale soziale Alltag – ob im direkten Kontakt oder auf Plattformen wie Facebook.
Im Prozessraum gilt: Alles darf da sein. Bewertungsfrei. Liebevoll gehalten.
Damit ich so einen Raum zur Verfügung stellen kann, muss ich mich selbst mit allem, was in mir auftaucht, liebevoll halten – meine sogenannten Unzulänglichkeiten eingeschlossen. Ich zeige mich damit, wie es tatsächlich ist.
Im öffentlichen/sozialen Raum (Alltag, Social Media) gilt für mich ein anderer Auftrag:
Ich benenne Muster, Wirkungen und Unstimmigkeiten klar – ohne zu beschämen (das ist zumindest mein anspruch) –, weil dort Sichtbarkeit und Sprache die Mittel sind, Verantwortung zu kultivieren.
Diese Unterscheidung ist mir wichtig, damit niemand auf die falsche Idee kommt, beides gleichzusetzen.
Mentor für Verletzlichkeit – mein persönlicher Rahmen
Ich stehe dazu, mich als Mentor für Verletzlichkeit zu bezeichnen – und meine das wörtlich.
Verletzlichkeit heißt für mich, aufrichtig mit dem zu sein, was sich in mir zeigt, wie sich Dinge in mir anfühlen. Frei davon, ob das mit äußeren Normen kollidiert. Frei von einem Bild, wie ich mich sehen möchte oder gesehen werden möchte.
“I define vulnerability as uncertainty, risk, and emotional exposure.”
„Ich definiere Verletzlichkeit als Unsicherheit, Risiko und emotionale Offenheit.“
– Brené Brown
“Vulnerability is not weakness; it’s our most accurate measure of courage.”
„Verletzlichkeit ist keine Schwäche; sie ist unser genauestes Maß für Mut.“
– Brené Brown
Ich bin mir bewusst, dass ich – wie jeder Mensch – nicht frei von Wahrnehmungsverzerrungen bin. Meine Geschichte, meine Herkunft, Kindheitsprägungen und Traumata prägen meinen Blick in diese Welt. Daher reagiere ich sehr sensitiv auf alles, was nach Widersprüchlichkeit, Willkür oder Unrecht anfühlt.
Wer in frühen Jahren spürt, dass „etwas nicht stimmt“, aber keinen Kontext hat, lernt leicht, der eigenen Instinkt-Intelligenz zu misstrauen. Heute nenne ich das: Kontextbewusstsein und Wertschätzung der Selbstwahrnehmung. Und es bedeutet natürlich auch, im Inneren eine Unterscheidungsfähigkeit zu kultivieren: zu spüren, ob etwas ein tatsächliches Unrecht ist oder ein gefühltes Unrecht, das aus früheren Erfahrungen entsteht.
Muster zu erkennen ist eine Stärke von mir. Deshalb habe ich vor einiger Zeit auf Facebook einen längeren Post geschrieben: „Ich gebe mir die Erlaubnis, unbequem zu sein.“ Vor kurzem habe ich ihn ergänzt – weil ich ein Zitat gelesen habe, das mich tief berührt hat:
“Nonviolence is not simply the absence of violence; it is about taking a proactive stand against injustice and working to repair harm.” — Kazu Haga
„Gewaltfreiheit ist nicht einfach die Abwesenheit von Gewalt; sie bedeutet, aktiv Stellung gegen Unrecht zu beziehen und daran zu arbeiten, erlittenen Schaden zu heilen.“
– Kazu Haga
Es hat mich daran erinnert, dass Gewaltfreiheit auch bedeutet, Gewalt zu benennen und Verantwortung zu übernehmen – klar, ohne Beschämung, und immer mit Bezug zur Beziehung. Genau das fasse ich hier zusammen.
Manchmal fühlt es sich so an, als hätte ich gar keine Wahl, als auf Willkür, Doppelmoral oder Beschämung zu reagieren – besonders wenn sie von Menschen kommen, die für Sicherheit stehen sollten. Das ist einfach der aktuelle Stand dessen, wie mein System funktioniert.
Und auch das ist für mich Freundschaft mit dem Nervensystem: die Bereitschaft, das was in mir ist, zu ehren und zu würdigen – und nicht zu versuchen, es permanent am Maßstab sozialer Sicherheit zu bewerten. Mit dem da zu sein, was tatsächlich da ist – privat wie öffentlich, jeweils kontextgerecht.
Genau aus diesem inneren Raum heraus ist damals dieser nachfolgende Facebook-Post entstanden.
Ursprünglicher Facebook-Beitrag „Die Erlaubnis unbequem zu sein“:
💬 Die Entscheidung, nicht zu gefallen:
Ich gebe mir die Erlaubnis, unbequem zu sein.
Ich gebe es zu: Social Media ist für mich eine Art Hassliebe.
Es ist ein Ort, an dem ich mich immer wieder zeige – mit meinen Gedanken, meinen Fragen, meiner Haltung.
Und gleichzeitig ist es ein Raum, in dem ich mich oft fremd fühle.
Weil ich hier immer wieder etwas beobachte, das mich persönlich wie beruflich tief beschäftigt:
sprachliche Übergrifflichkeit.
Aussagen, die auf den ersten Blick stimmig wirken –
aber auf den zweiten entwertend, beschämend oder überheblich sind.
Aussagen, die sich mit Traumasensibilität schmücken –
aber im Kern das Gegenteil davon leben.
Ich mache das hier zum Thema. Immer wieder.
Und ich werde oft gefragt:
„Warum tust du dir das an, Madhava? Warum mischst du dich überhaupt ein?“
Meine Antwort darauf ist nicht einfach.
Und sie beginnt genau hier:
Bei einer Erfahrung, die mich tief berührt hat –
und bei einem inneren Konflikt, den ich seit meiner Kindheit kenne.
🧠 A sagen – und B leben
Ich hab früh gelernt, dass Worte nicht immer das meinen, was sie sagen.
Dass Sätze freundlich klingen können, aber der Blick dazu eiskalt ist.
Dass jemand „Ich liebe dich“ sagt, aber mit seinem ganzen Körper Ablehnung ausstrahlt.
Und irgendwo in mir ist da bis heute dieser kindliche, verletzte Anteil, der einfach nur verstehen will:
Wie kann das sein? Wie kann jemand A sagen – und B tun?
Wenn ich heute im öffentlichen Raum unterwegs bin – auch in meinem beruflichen Feld – dann treffe ich immer wieder auf genau diese Spannung.
Und sie tut weh. Manchmal mehr, als ich zugeben will.
Neulich wieder.
Ein Kollege, der sich öffentlich als körperorientierter Traumatherapeut präsentiert – mit Schlagworten wie „neurosomatisch“, „Verkörperung“, „achtsame Prozessbegleitung“.
Worte, die für mich eine Bedeutung haben.
Worte, die ein Versprechen in sich tragen:
👉 Ich verstehe Verhalten.
Ich schaffe Sicherheit.
Ich werte nicht.
Und dann lese ich seine Beiträge.
Einerseits empört er sich über spirituelle Lehrer – über sogenannte Gurus, die von oben herab sprechen, andere analysieren, übergriffig sind und den Dialog wie auch die Verantwortung verweigern.
Ich teile diese Kritik.
Aber kaum ein paar Zeilen darunter folgt ein eigener Beitrag,
in dem er genau das tut:
❌ beschämt
❌ verallgemeinert
❌ bewertet, was „richtige“ Männlichkeit ist
Nicht aus Forschung, nicht differenziert – sondern moralisch.
Ich habe ihn darauf angesprochen. Kollegial. Ohne Vorwurf.
Mit dem Wunsch nach Dialog.
Seine Antwort:
„Der Beitrag war nie traumasensibel gemeint. Und alles, was du darin siehst, ist deine Projektion. Der Text ist gut so, wie er ist. Wer ihn lesen will, wird ihn auch verstehen.“
In meinem Verständnis ist das die maximale Verweigerung von Verantwortung.
Kein Hinhören.
Kein Spiegel.
Kein Innehalten.
🧱 Der Riss
Und da war sie wieder.
Diese Mischung aus Frustration, Ohnmacht und Traurigkeit.
Diese innerere Resignation: „Wieder einer weniger.“
Wieder einer, der vorgibt, dass es bei ihm sicher ist –
aber unbemerkt genau das Verhalten zeigt, das er lautstark anklagt.
Und ich merke, wie sich mein System schließt.
Wie sich etwas in mir zurückzieht –
aus Schutz, aus Müdigkeit, aus der Erkenntnis,
dass viele von uns darüber reden,
aber nicht bereit sind, das eigene Verhalten zu tragen.
⚠️ Retraumatisierung durch „versprochene Sicherheit“
Und genau hier liegt für mich das eigentliche Risiko der Retraumatisierung:
Nicht in einem einzelnen Satz.
Nicht in einem sichtbaren Übergriff.
Sondern in dem, was unausgesprochen mitschwingt –
in einem Versprechen von Sicherheit,
das nicht wirklich gehalten werden kann.
Wenn jemand sagt: „Bei mir ist es sicher“,
aber nicht spürt, was er ausstrahlt – nicht bemerkt, wie viel Spannung, Bewertung oder subtile Abwertung in der Stimme liegt –
dann entsteht ein feiner Riss.
Ein kaum sichtbarer Riss –
doch für traumatisierte innere Kinder ein unüberhörbares Echo.
Denn genau das ist oft der Ursprung des Schmerzes:
Dass wir mit dem Versprechen ins Leben kamen: „Du bist willkommen.“
Und stattdessen Ablehnung, Spannung oder emotionale Kälte gespürt haben.
Diese inneren Kinder haben feinste Antennen.
Und gleichzeitig – das ist das Tragische –
haben viele von ihnen gelernt, diesen Instinkten nicht mehr zu trauen.
Weil es zu schmerzhaft war, sie zu fühlen.
Weil es sicherer war, sich selbst zu übergehen,
als der Wahrheit ins Gesicht zu schauen.
Und genau deshalb stehen wir –
als Begleiter, Lehrer, Therapeuten –
in tiefer Verantwortung.
Nicht nur für unsere Worte.
Sondern für das, was sie energetisch ausstrahlen.
Für die Wirkung, die sie hinterlassen.
🌱 Meine Art, unbequem zu sein
Ich gebe mir die Erlaubnis, das zu sehen.
Ich gebe mir die Erlaubnis, unbequeme Fragen zu stellen.
Nicht, weil ich irgendwann mal beschlossen hätte:
„Ich will unbequem sein.“
Sondern weil es meine Natur ist.
Weil es MICH lebt – nicht umgekehrt.
Ein tiefer Wesenszug.
Ein Ausdruck von Lebenskraft, von Wahrhaftigkeit.
Wenn ich in meinem Leben je versucht habe, einen Impuls zu unterdrücken – dann diesen.
Und ich bin grandios daran gescheitert.
Weil ich nicht anders kann,
als hinzuschauen.
Als die Spannung zu benennen.
Als zu fragen:
👉 „Stehst du zu dem, was du sagst?“
Früher war mein Ton hart, überheblich, manchmal anklagend.
Weil ich selbst tief in Überlebensmustern war.
Heute ist mein Weg ein anderer.
Ich lerne,
💬 Worte zu finden, die nicht trennen.
💬 Töne zu halten, die klar, aber weich sind.
💬 Wahrheit zu sprechen, ohne zu beschämen.
Und genau deshalb:
💥 Ich möchte daran erinnert werden, wenn ich mich verliere.
💥 Ich möchte verantwortlich gemacht werden, wenn ich blind bin.
Denn Verantwortung ist für mich kein Korrektiv –
Sie ist meine Lebensaufgabe.
Der innere Antrieb all meiner Arbeit.
Die Energie hinter allem, was ich tue.
Ich mache Fehler.
Ich reagiere aus alten Mustern.
Aber ich scheue nicht zurück, mich mit alldem zu zeigen.
Und in die Beziehung zurückzukehren.
🤝 Für eine Welt, in der Worte wieder zählen
Ich schreibe diesen Text nicht, um jemanden bloßzustellen.
Sondern weil ich glaube, dass wir in unserem Feld eine besondere Verantwortung tragen:
Nicht nur für das, was wir sagen – sondern für das, was wir leben.
Ich bin nicht hier, um zu gefallen.
Ich bin nicht hier, um Harmonie um jeden Preis zu erzeugen.
Ich bin hier, weil ich mich nach einer Welt sehne,
in der Vertrauen nicht behauptet wird,
sondern spürbar ist.
In der Worte und Energie übereinstimmen.
In der wir den Mut finden,
👉 A nicht nur zu sagen, sondern auch zu leben.
Oder – wenn es nicht gelingt –
uns dafür in die Verantwortung zu stellen.
In Verbundenheit
Micha Madhava
Gewaltfreiheit bedeutet, hinzuschauen und zu benennen
„Fight for those who don’t have a voice.“
„Kämpfe für die, die keine Stimme haben.“ –– Jeff Foster
Veränderung beginnt damit, dass etwas zuerst sein darf, wie es ist.
Und gleichzeitig gehört die Benennung dazu.
Es darf so sein – und es darf sich verändern.
Doch für Veränderung braucht es zuerst den Mut, hinzuschauen.Vor 100 oder 200 Jahren hatten wir ein anderes Verständnis von Schutz und Verantwortung.
Was wir heute als Missbrauch an Kindern klar benennen, war damals gesellschaftlich nicht fassbar, oft nicht einmal sprachlich vorhanden.
Niemand nannte es Unrecht – und deshalb konnte es weiterbestehen.Veränderung begann dort, wo Menschen erstmals sagten:
„Das ist nicht in Ordnung.“
Ohne diesen Schritt gäbe es die Schutzstandards, die wir heute selbstverständlich voraussetzen, nicht.Diese Haltung – hinsehen, benennen, Verantwortung tragen – findet sich bei vielen Vordenkern der Gewaltfreiheit.
Sie haben gezeigt, dass Gewaltfreiheit nicht bedeutet zu schweigen, sondern den Mut zu haben, das Offensichtliche sichtbar zu machen, ohne zu entmenschlichen.
Diesen Stimmen möchte ich hier kurz Raum geben:
Stimmen, die diese Haltung tragen
- Mahatma Gandhi – Satyagraha: Wahrheit benennen, ohne Gewalt.
- Martin Luther King Jr.: Nonviolence ist aktiver Widerstand gegen Unrecht.
- Gene Sharp: Gewaltfreiheit umfasst explizit das öffentliche Benennen von Missständen.
- Desmond Tutu: Neutralität in Situationen von Unrecht bedeutet, die Unterdrücker zu unterstützen.
- Thomas Merton: Gewaltfreiheit ist aktive, kreative, liebevolle Gegenwehr.
- Audre Lorde: „Your silence will not protect you.“
- Paulo Freire: Neutralität dient der Macht, nicht der Befreiung.
Schluss: Vision & Verpflichtung
Meine Vision ist groß – vielleicht utopisch. Es ist möglich, dass ich ihre volle Umsetzung nicht erlebe. Und doch lohnt es sich, heute den Boden zu bereiten: durch Kontextbewusstsein, klare Benennung und die Praxis, mit dem zu sein, was ist.
Liebe ist das Design. Das Nervensystem die Sprache. Resonanz die Richtung.
Grenzen sind Liebe in Struktur.
Freundschaft mit dem Nervensystem bleibt die Praxis – privat, in der Prozessbegleitung und im öffentlichen Raum.
Quellenangaben:
- Mahatma Gandhi – Satyagraha (Wahrheits-Kraft) —
britannica.com - Martin Luther King Jr. – aktive Gewaltfreiheit —
kinginstitute.stanford.edu - Gene Sharp – „198 Methods of Nonviolent Action“ —
commonslibrary.org - Desmond Tutu – Neutralität & Unrecht —
oxfordreference.com - Thomas Merton – Weisheit der Gewaltfreiheit —
johndear.org - Audre Lorde – „Your silence will not protect you“ —
caps.sfsu.edu - Paulo Freire – Neutralität & Macht —
freire.org - Brené Brown – Definition von Verletzlichkeit —
goodreads.com - Brené Brown – „Vulnerability is not weakness“ —
annsilvers.com - Kazu Haga – Definition von Gewaltfreiheit —
eastpointpeace.org
Der traumasensible Philosoph – präziser ist als jede andere Bezeichnung