Selbstliebe und Nervensystem: Wie Sicherheit Verbindung und Liebe ermöglicht

Lesedauer 6 Minuten

Eine Brücke zwischen Learning Love, Polyvagal-Theorie und Neuro-Buddy-Methode – warum Beziehung erst dann fließt, wenn das Nervensystem Sicherheit spürt.

Warum diesen Artikel lesen?

Wenn wir von Selbstliebe sprechen, denken viele an Akzeptanz oder Selbstfürsorge. Was, wenn Selbstliebe in Wahrheit eine nervensystemische Praxis ist – eine Haltung, die im Körper beginnt und Sicherheit spürbar macht? Dieser Artikel lädt ein, die Verbindung von Learning Love, Polyvagal-Theorie und Nervensystemarbeit zu erkunden – und zu verstehen, warum „Grenzen“ keine Distanz bedeuten, sondern Liebe in Struktur.

Vielleicht zeigt sich, dass Liebe weniger Idee ist als eine physiologische Sprache von Sicherheit und Resonanz. Wenn Sicherheit spürbar wird, kann Liebe wirken – zuerst nach innen, dann in Beziehung. Learning Love bietet die Haltung; eine polyvagal-informierte Praxis macht die Sprache des Nervensystems lesbar.

Wer sind Krishnananda & Amana Trobe – und was ist Learning Love?

Krishnananda & Amana Trobe leiten seit den 1990ern das Learning Love Institute (Arizona/USA). Ihre Arbeit verbindet Bindungsdynamiken (Scham, Nähe, Abhängigkeit/Co-Abhängigkeit) mit Körper- und Nervensystemarbeit. Im Kern geht es um Beziehungsreife: weniger Ideal, mehr Integration.

„Selbstliebe ist keine romantische Idee, sondern ein Weg der Integration von Scham und Angst.“

Krishnananda & Amana

Mein Kontext: Für mich persönlich sind Krishnananda & Amana meine wichtigsten Lehrer und Mentoren – und meine „emotionalen Eltern“. Mit ihrem ersten Buch wurde klar: Das ist meine Arbeit. Aus dieser Haltung entstand über die Jahre meine NEURO-Buddy-Methode – Freundschaft mit dem Nervensystem.

1) Selbstliebe als Voraussetzung – Learning-Love-Brille

In der Learning-Love-Arbeit meint Selbstliebe eine reife, wohlwollende Beziehung zu Grenzen, Ressourcen und Verletzungen. Ohne diese innere Bezogenheit entstehen leicht Bedingungen: Ich gebe Liebe – solange meine verdeckten Mängel kompensiert werden. Kernaussage: Ohne Selbstliebe bleibt Liebe oft verstrickt: Wir tragen den Mangel zum anderen – und nennen ihn Nähe.

2) Nervensystem: Sicherheit ermöglicht Verbindung

Ob Nähe als sicher erlebt wird, entscheidet sich nicht primär im Denken, sondern im Körper. Die Polyvagal-Theorie (Stephen W. Porges) beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem Sicherheit/Gefahr unbewusst „liest“ (Neurozeption) – und darauf mit Sozialem Engagement (ventraler Vagus) oder Schutzreaktionen (Fight/Flight/Freeze/Fawn) antwortet.

Praxisblick: Wer „lieben möchte“, könnte zunächst Sicherheit verkörpern – lesbar, spürbar, verkörperbar.

3) Stress als Signal – die Körpersprache ernst nehmen

Übergehener Stress wirkt wie „giftige Beeren“: kurzfristig verlockend, langfristig belastend. Der Körper sendet Signale (Enge, Gereiztheit, Erschöpfung, Abschalten). Wenn wir diese Sprache ernst nehmen, entsteht Integrität: Wir behandeln den Körper wie einen Partner – nicht wie ein Werkzeug.

„Trauma is a fact of life. It does not, however, have to be a life sentence.“

„Trauma ist eine Tatsache des Lebens. Es müsste jedoch kein lebenslanges Urteil bleiben.“

Peter A. Levine · Waking the Tiger

4) „Ich liebe dich – aber in einer Sprache, die du nicht verstehst“

Unregulierter Kontakt fühlt sich für das Gegenüber oft wie „zu viel“, „zu nah“ oder „zu schnell“ an. Wirklogik: Ohne gemeinsame Sicherheit wird Nähe als Bedrohung kodiert. Reifeantwort: Tempo senken, Dosis anpassen, Resonanz einholen.

Deb Dana (polyvagal-informierte Praxis) fasst es pragmatisch:

„When there are more cues of safety than danger, I can move forward … anchored in [ventral].“

„Wenn es mehr Signale von Sicherheit als von Gefahr gibt, könnte ich vorangehen – verankert im ventralen Zustand.“

Deb Dana

5) Warum „Freundschaft mit dem Nervensystem“ (NEURO-Buddy-Methode) hier ansetzt

Mein Ansatz verbindet die Haltung von Learning Love mit einer pragmatischen, nervensystem-orientierten Praxis. Keine „Regulations-Hacks“, sondern Beziehungsarbeit – mit dir selbst und miteinander. Die Leitfrage könnte immer sein: „Wie würde Sicherheit klingen, aussehen und sich anfühlen – jetzt?“

Was „Freundschaft mit dem Nervensystem“ meint: statt Druck auf „Funktionieren“ eher Neugier auf Zustände; statt Selbstoptimierung eher Beziehungspflege. Du würdest deinen inneren Zustand lesen, würdest ihn bezeugen und dann dosiert handeln. Dadurch könnte Nähe lesbar werden – zuerst für dich, dann für andere.

Die fünf Prinzipien – konkret gemacht

  • Bezeugende Präsenz: Erst Zeugenschaft, dann Veränderung.
    So könnte es aussehen: 20 Sekunden wahrnehmen („Da ist Enge im Brustbein“), erst danach entscheiden („Könnte ich langsamer sprechen?“).
    Hinweiszeichen: Wenn du sofort Lösungen suchst oder erklärst, fehlt oft die Zeugenschaft.
  • Grenzen sind Liebe in Struktur: Dosis, Tempo, Distanz dosieren Sicherheit.
    So könnte es klingen: „Ich mag das Gespräch – und bräuchte fünf Minuten Pause, damit ich präsent bleiben kann.“
    Effekt: Nähe bleibt möglich, weil das Nervensystem Halt bekommt.
  • Resonanz vor Inhalt: Zuerst der Kanal, dann die Botschaft.
    Praxis: Stimme weicher, Körper orientiert (Blick in den Raum), erst dann Aussage. Der Inhalt landet, weil der Kanal offen ist.
  • Mikro-Schritte: Kleine, wiederholbare Handlungen statt großer Überforderung.
    Beispiel: Ein Satz – Stille – Resonanz abwarten. Lieber drei kleine Brücken als einen Sprung.
  • Verständnis der Zustände: Zustandslogik lesen – und Wandel ermöglichen.
    Merker: Fight (Druck), Flight (Eile), Freeze (Leer), Fawn (Anpassen). Frage: „Welcher Zustand zeigt sich – und was bräuchte er für 10 % mehr Sicherheit?“

Ein Mikro-Protokoll (3 Phasen) für heikle Momente

  1. Orientieren (10–30 s): Blick wandern lassen, zwei reale Anker benennen („Fenster, Tisch“), exhale first.
  2. Regulieren (60–120 s): Ausatmen verlängern, Schultern weich, Sitzfläche spüren; Tempo senken.
  3. Resonanz (1 Satz): „Ich merke Druck. Könnten wir kurz langsamer machen, damit ich bei dir bleiben kann?“

Wofür das gut ist: Sicherheit wird verkörpert statt nur behauptet. Kommunikation könnte klarer werden, Grenzen sanfter, Nähe stabiler.

6) Praktische Mikroschritte (einladend, nicht direktiv)

Die folgenden Impulse sind einladend gemeint. Du würdest wählen, was heute passt – klein, machbar, wiederholbar.

  • Mini-Check-in (30–60 s): „Was ist spürbar – Enge/Weite? Wärme/Kühle? Druck/Schwere?“ Ein Wort genügt. Ziel: Lesbarkeit erhöhen.
  • Dosis-Regel (10 %): „Könnten 10 % weniger Intensität möglich sein – bei gleicher Ehrlichkeit?“ Beispiel: leiser sprechen, kürzer formulieren.
  • Tempo-Regel (ein Satz, dann Stille): „Könnte ein Satz genügen – und dann Stille, bis Resonanz spürbar wird?“ Signal: du hörst, ob die Botschaft ankommt.
  • Boundary-Signal (früh & freundlich): „Ich mag das Thema – und bräuchte fünf Minuten, um mitzubleiben.“ Wirkung: Grenze als Einladung, nicht als Abbruch.
  • Repair-Impuls (wirkung statt schuld): „Als du das sagtest, spürte ich Rückzug. Könnten wir langsamer schauen, was bei mir passiert?“ Effekt: Verbindung statt Verteidigung.

Mini-Rituale für den Alltag

  • Vor dem Gespräch: Ein Atemzug länger aus als ein; Kiefer lösen; Schulterblätter sinken lassen.
  • Währenddessen: Füße am Boden spüren; Blick weich halten; kurz zusammenfassen, was du gehört hast.
  • Nach dem Gespräch: Ein Wort Check-out („erleichtert“, „wach“, „müde“) – und 60 Sekunden ohne Bildschirm!

Beziehungs-Skript (Beispiel)

„Ich will dir zuhören und merke gleichzeitig Druck in mir. Könnten wir für zwei Minuten langsamer werden, damit ich präsent bleiben kann? Danach antworte ich in einem Satz.“

Woran Fortschritt erkennbar wäre

  • Du bemerkst früher, dass du im Stress bist – und brauchst weniger Zeit, um wieder zu landen.
  • Grenzen klingen weicher, kommen aber klar an.
  • Gespräche werden kürzer, jedoch verbindlicher; Reparaturen gelingen schneller.

„Daring to set boundaries is about having the courage to love ourselves, even when we risk disappointing others.“

„Grenzen zu setzen bedeutet, den Mut zu haben, uns selbst zu lieben – auch auf die Gefahr hin, andere zu enttäuschen.“

Brené Brown

7) Häufige Missverständnisse – kurz & knackig

  • „Wenn ich liebe, sollte das immer ankommen.“
    → Könnte – wenn Sicherheit vorhanden ist. Ohne Sicherheit priorisiert Biologie Schutz (vgl. Porges). Stephen W. Porges
  • „Regulation ist Ego-Kontrolle.“
    → Eher nicht. Es geht um Beziehungsfähigkeit: Erst reguliert, dann resonant (vgl. Dana). Deb Dana
  • „Grenzen sind Trennung.“
    → Grenzen dosieren Nähe. Grenzen sind Liebe in Struktur (vgl. Brown). Brené Brown

8)Fazit

Vielleicht beginnt Liebe genau dort, wo der Körper aufatmet. Ein Moment der Weichheit im Bauch, ein klein wenig mehr Wärme in den Händen – kaum merklich, aber spürbar. Könnte es sein, dass diese feinen Signale schon der Anfang von Selbstliebe sind? Nicht als großes Ideal, sondern als stilles „Ja“ zum eigenen Nervensystem.

Learning Love lädt ein, diese feinen „Ja-Momente“ zu kultivieren. Statt schneller Lösungen vielleicht lieber langsame Schritte: heute eine Grenze klarer, morgen ein Tempo ruhiger, übermorgen eine Pause früher. Könnte Selbstliebe dann weniger Leistung sein und mehr Beziehung – zuerst mit dir, dann miteinander?

Stell dir eine Begegnung vor: Du willst Nähe, merkst aber Enge im Hals. Früher vielleicht durchziehen, Erklären, Überreden. Heute ein Innehalten. Ein Atemzug tiefer, ein Satz weniger. Könnte das Gegenüber deine Sicherheit lesen, weil du sie verkörperst – nicht, weil du sie erklärst? Vielleicht entsteht genau hier Resonanz: die Botschaft darf warten, der Kanal wird klar.

Grenzen wirken dann nicht wie Mauern, sondern wie Geländer. Sie halten, ohne zu trennen. Eine Einladung statt ein Verbot: „So geht es mir – so bleibt es gut.“ Vielleicht ist das die unscheinbare Revolution: Dosis, Tempo, Distanz so zu dosieren, dass Liebe nicht verliert, sondern Form gewinnt.

Die NEURO-Buddy-Methode könnte dabei der leise Begleiter sein: bezeugende Präsenz statt innerer Druck, Neugier statt Urteil, Mikro-Schritte statt Maximal-Anspruch. Ein 30-Sekunden-Check-in vor dem Gespräch. Ein „Könnte es reichen?“ bevor du alles erklärst. Ein „Ich spüre Wirkung“ statt „Du machst immer…“. Kleine Gesten – große Lesbarkeit für das Nervensystem.

Und wenn es ruckelt? Vielleicht ist das kein Scheitern, sondern Biologie auf Sendung. Schutzreaktionen melden sich, weil ihnen etwas wichtig ist: Sicherheit. Könnte die Antwort dann milder werden – ein bisschen mehr Boden unter den Füßen, ein bisschen weniger Story im Kopf? Oft reicht ein gemeinsamer Anker: Blick weich, Stimme warm, Tempo runter.

Am Ende fügt es sich einfach: Liebe als Design, das Nervensystem als Sprache, Resonanz als Richtung. Wenn Sicherheit spürbar wird, fließt Beziehung – nicht perfekt, aber lebendig. Vielleicht genügt es, heute eine Stelle etwas sicherer zu machen. Der Rest könnte sich ergeben: ein Atemzug nach dem anderen, ein Schritt, der trägt.

FAQ

Was bedeutet „Freundschaft mit dem Nervensystem“?

Eine Haltung, die Zustände versteht, statt sie zu bekämpfen – und Sicherheit als Grundlage von Verbindung pflegt (vgl. Dana). Deb Dana – Anchored

Was ist Learning Love – und wie passt es hierher?

Ein entwicklungsorientierter Weg (Trobe & Trobe), der Scham-, Bindungs- und Reifedynamiken mit Körper-/Nervensystemarbeit verbindet – Liebe als beziehungsfähige Haltung im Alltag. Learning Love Institute

Wer sind Krishnananda & Amana Trobe?

Krishnananda (Thomas Trobe, M.D.) und Amana Trobe sind die Begründer:innen des Learning Love Institute (seit 1995). Ihr Fokus: Beziehungsreife, Scham und Verletzlichkeit – praxisnah, körper- und nervensysteminformiert. Krishnananda ist Psychiater (M.D.), ausgebildet an Harvard und der University of California; Amana bringt umfassende Weiterbildungen u. a. in Somatic Experience, GFK, Inner Child Work und Cranio-Sacral ein. Gemeinsam publizieren sie Bücher und leiten internationale Seminare & Trainings.  Video-Interviews

Warum reicht gute Intention nicht?

Weil Neurozeption Wirkung mitbestimmt: Das Nervensystem „liest“ Sicherheit/Gefahr jenseits von Worten (Porges). Stephen W. Porges

Was hilft praktisch in der Beziehung?

Mikroschritte: Mini-Check-ins, Dosis/Tempo anpassen, Resonanz einholen.

Quellen

 

Hier schreibt...

Bild von Micha Madhava -

Micha Madhava -

über Trauma, Beziehung und das Nervensystem – für eine traumainformierte Gesellschaft und eine wohlwollende Kultur des Miteinanders.

Meine Texte wachsen aus der Überzeugung, dass Liebe das grundlegende Design des Lebens ist – und dass unser Nervensystem die Sprache ist, in der dieses Design spürbar wird.

Ich schreibe, um Differenzierung zu ermöglichen – in einer Welt, die viele von uns überfordert, emotional fragmentiert oder in Anpassung zwingt.
Meine Impulse laden ein, zurückzufinden: in Kontakt, in Selbstwahrnehmung, in Beziehung.
Denn was uns geprägt hat, muss nicht bestimmen, wie wir leben.

Meine Vision ist eine Gesellschaft, in der Beziehungskompetenz selbstverständlich wird – in Partnerschaft, Elternschaft, Freundschaft und im sozialen Gefüge.
Je besser wir unsere Biologie verstehen, desto tiefer können wir lieben.

Liebe ist das Design. Das Nervensystem ist die Sprache. Resonanz die Richtung.

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