Heilungsweg bei Trauma: Warum es manchmal erst schlimmer wird, bevor es besser wird

Lesedauer 4 Minuten

Der nicht-lineare Heilungsweg: Warum Rückschritte Teil der Trauma-Integration sind

Was dich in diesem Artikel erwartet

Viele Menschen, die sich auf den Heilungsweg bei Trauma machen, erleben ein ähnliches Phänomen: Statt dass es stetig leichter wird, fühlt es sich manchmal sogar schwerer an. Symptome verschärfen sich, alte Überlebensstrategien tauchen wieder auf, Gefühle von Scham und Schuld kehren zurück. Diese Erfahrung ist verwirrend und kann leicht zu der Frage führen: „Mit mir stimmt etwas nicht, oder?“

In diesem Artikel möchte ich dir zeigen, warum solche Wellenbewegungen ganz typisch für die Trauma-Integration sind und wie du sie aus einer traumasensiblen Perspektive verstehen kannst. Du erfährst, welche Rolle dein reguliertes Nervensystem spielt, warum Rückschritte Teil des Wachstumsprozesses sind und wie du mit Selbstfürsorge, Grenzen und Ressourcen stabil bleibst.

Du kannst diesen Text als Einladung lesen: dich selbst besser zu verstehen, dir mit mehr Wohlwollen zu begegnen und deine kleinen wie großen Schritte auf dem Weg zur inneren Heilung zu würdigen.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass der Heilungsweg bei Trauma nie wirklich endet. Dieser Artikel ist in erster Linie für mich selbst geschrieben – um mich immer wieder daran zu erinnern, dass Geduld, Wohlwollen und die Berücksichtigung des eigenen Tempos unerlässlich sind. Denn obwohl ich die theoretischen Grundlagen der Traumaheilung tief verankert habe, bin ich selbst immer wieder herausgefordert, auszuhalten, dass echte Integration auf Nervensystemebene ein schrittweiser Prozess ist.

Es gibt immer wieder innere Anteile, die versuchen, mich davon zu überzeugen, dass für mich als Prozessbegleiterin andere Regeln gelten würden. Doch Heilung kennt keine Abkürzungen.

Tiefer graben: Wiederkehrende Themen im Heilungsprozess

Es ist wie im Bergbau: Zunächst bearbeitet man die oberflächlicheren Schichten. Doch selbst wenn man glaubt, ein Thema wie Verlassenheit oder Scham sei abgeschlossen, taucht es später erneut auf – nur auf einer tieferen Ebene. Dort begegnen wir anderen Persönlichkeitsanteilen, die mit intensiver Überlebensenergie geladen sind. Diese tieferliegenden Schichten zeigen sich erst, wenn man bereits einige „Heilungsrunden“ gedreht hat und die nötige innere Kapazität und Resilienz aufgebaut hat, um ihnen standzuhalten.

„Trauma ist nicht das Ereignis selbst, sondern das, was in uns geschieht in Folge des Ereignisses.“ Gabor Maté, When the Body Says No

Warum es auf dem Heilungsweg manchmal schlimmer wird

Es kann sehr frustrierend sein, wenn man das Gefühl hat, endlich auf dem richtigen Weg zu sein, vieles zu verstehen – und dennoch erleben muss, dass Symptome sich verstärken oder man sogar das Gefühl hat, zurückzufallen.

Nicht selten gibt es auf diesem Weg Momente der Erkenntnis: Gedankenstücke fügen sich wie Puzzleteile zusammen, als würden in den Synapsen des Gehirns tausende neue Verbindungen entstehen. Zusammenhänge, die zuvor unklar waren, werden auf einmal kristallklar. Ein Aha-Erlebnis stellt sich ein: „Ach so, das ist es also, was mich belastet!“

„Unser Nervensystem sehnt sich nach Sicherheit und Verbindung. Ein reguliertes Nervensystem ist die Basis für Heilung.“Stephen Porges

Was bedeutet das Stress-Toleranz-Fenster?

Das Stress-Toleranz-Fenster beschreibt den inneren Bereich, in dem unser Nervensystem ausgeglichen ist – nicht unter- oder überfordert. In diesem Zustand sind wir präsent, handlungsfähig und in Verbindung. Wenn alte Wunden wieder aufbrechen, verlassen wir dieses Fenster. Das kann sich in Übererregung, Angst, Druck oder Erstarrung zeigen.

Drei Gründe, warum Symptome zurückkehren können

Erstens: Auf der Erkenntnisebene bringen neue Einsichten zwar Entlastung, sie erzeugen aber auch Druck, das Verstandene sofort umzusetzen. Integration auf Nervensystemebene braucht jedoch Zeit.

Zweitens: Wenn wir endlich das Gefühl haben, verstanden zu werden, öffnen sich tiefere Schichten. Dort liegen die Anteile, die sich bisher nicht gesehen fühlten. Verlassene Gefühle und alte Überlebensstrategien tauchen auf, die wir neu halten lernen müssen.

Drittens: Mit wachsender Kapazität wächst auch unsere innere Dynamik. Wer sich selbst regulieren kann, öffnet Räume für mehr Intensität. Dieses Wachstum verlangt Konsequenz und Achtsamkeit, um nicht in alte Kompensationsmuster zurückzufallen.

„Mit mir stimmt etwas nicht“ – Selbstabwertung verstehen

Wenn alte Muster auftauchen, fühlen wir uns oft wieder schuldig oder beschämt. Gedanken wie „Ich bin zu dämlich, um zu heilen“ oder „Mit mir stimmt wirklich etwas nicht“ tauchen auf. In solchen Momenten kehrt die Selbstabwertung zurück.

Wichtig ist zu verstehen: Symptome wie Ablenkungssucht, übermäßiger Konsum oder destruktive Verhaltensweisen sind keine Zeichen des Scheiterns, sondern Copingstrategien. Sie zeigen, dass dein System sich tieferen Schichten zuwendet.

„Heilung bedeutet nicht, nie mehr getriggert zu werden, sondern den Umgang mit Triggern zu verändern.“Verena König

Du bist nicht allein

Wenn du dich hier wiederfindest: Du bist nicht allein. Diese Erfahrungen sind ein ganz normaler Teil von Trauma-Integration. Sie bedeuten nicht, dass du versagt hast, sondern dass dein Nervensystem dir vertraut genug ist, mehr Tiefe zuzulassen.

Alle Ebenen unseres Seins sind beteiligt: das Nervensystem mit seinen Synapsen, das Unterbewusstsein mit alten Mustern und Kompensationsstrategien, unser Körper mit gespeicherten Traumaspuren und unsere Bindungsstile, die in Beziehungen sichtbar werden.

Achtsam mit schwierigen Phasen umgehen

Emotional können wir uns durch eine Haltung des Wohlwollens stabilisieren. Anstatt in Selbstabwertung und den Wunsch „alles wegzuhaben“ zu verfallen, üben wir uns darin, Muster, Geschichten und Gefühle mitzunehmen und zu würdigen. Aus dieser Haltung entsteht eine Kultur der Selbstzuwendung, die unsere Verletzlichkeit als Ressource anerkennt.

„Verletzlichkeit ist kein Zeichen von Schwäche, sondern der Ursprung von Mut und Verbindung.“Brené Brown

Auf praktischer Ebene hilft es, Ressourcen bewusst einzusetzen. Wenn dir die Natur Kraft gibt, plane feste Zeiten für Spaziergänge ein. Wenn Musik dich nährt, schaffe dir regelmäßig Raum dafür. So drückst du eine wohlwollende Haltung dir selbst gegenüber im Alltag aus. Ebenso wichtig ist es, deine Grenzen zu achten und „Nein“ zu sagen, wenn deine Kapazität erschöpft ist.

Pausen gehören ebenso dazu. Sie sind nicht Stillstand, sondern ein wesentlicher Teil der Integration. Sie geben deinem Nervensystem die Chance, neue Erfahrungen zu verarbeiten, statt überwältigt zu werden.

Unterstützung ist ein weiterer entscheidender Faktor. Fachliche und liebevolle Begleitung kann dir helfen, korrigierende Erfahrungen zu machen. Es ist ein Teil von Heilung, sich spiegeln und tragen zu lassen.

Dich selbst würdigen

Vergiss nicht, dich für deinen Weg zu feiern. Auch kleine Schritte verdienen Anerkennung. Jeder Moment, in dem du dich der Tiefe zuwendest, ist wertvoll. Erlaube dir, Fortschritte zu würdigen und Momente der Lebensfreude zu genießen.

FAQ: Traumaheilung & Nervensystem

Was bedeutet Trauma-Integration?
Trauma-Integration heißt, dass alte Erfahrungen Teil deines heutigen Erlebens werden dürfen, ohne dich zu überwältigen. Es geht nicht ums „Weglösen“, sondern ums Verstoffwechseln.

Wie zeigt sich ein reguliertes Nervensystem?
Du bleibst präsent und in Verbindung. Auch in Konflikten kannst du handlungsfähig bleiben und dich selbst spüren.

Was tun, wenn es schlimmer wird?
Erinnere dich: Tiefe wird sichtbar, weil dein System die Kapazität dafür entwickelt hat. Nutze bewusst Ressourcen, reduziere Belastungen und suche dir Unterstützung.


Zusammenfassung

  • Der Heilungsweg bei Trauma ist kein linearer Prozess.
  • Mit wachsender Kapazität öffnen sich tiefere Schichten.
  • Symptome sind Teil des Integrationsprozesses, nicht Zeichen des Scheiterns.
  • Echte Selbstfürsorge ist der Schlüssel, um diesen Weg zu halten.
  • Du bist nicht allein – dein Weg ist wertvoll.

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Bild von Micha Madhava -

Micha Madhava -

über Trauma, Beziehung und das Nervensystem – für eine traumainformierte Gesellschaft und eine wohlwollende Kultur des Miteinanders.

Meine Texte wachsen aus der Überzeugung, dass Liebe das grundlegende Design des Lebens ist – und dass unser Nervensystem die Sprache ist, in der dieses Design spürbar wird.

Ich schreibe, um Differenzierung zu ermöglichen – in einer Welt, die viele von uns überfordert, emotional fragmentiert oder in Anpassung zwingt.
Meine Impulse laden ein, zurückzufinden: in Kontakt, in Selbstwahrnehmung, in Beziehung.
Denn was uns geprägt hat, muss nicht bestimmen, wie wir leben.

Meine Vision ist eine Gesellschaft, in der Beziehungskompetenz selbstverständlich wird – in Partnerschaft, Elternschaft, Freundschaft und im sozialen Gefüge.
Je besser wir unsere Biologie verstehen, desto tiefer können wir lieben.

Liebe ist das Design. Das Nervensystem ist die Sprache. Integration die Richtung.

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