Toxische Scham in Beziehungen: 2 Dynamiken erklärt

Lesedauer 10 Minuten

Wenn das Selbstbild wichtiger wird als Nähe – Absicht vs. Wirkung  besser verstehen. Betrachtungen von Dynamiken.

Worum geht es hier?

Vielleicht kennst du Momente, in denen sich eine Beziehung nur dann ruhig anfühlt, wenn ein bestimmtes Selbstbild unberührt bleibt. Aus einem trauma-informierten Blickwinkel ließe sich sagen: toxische Scham in Beziehungen könnte hier leise Regie führen – oft verbunden mit Schamabwehr, Co-Abhängigkeit oder Trauma Bonding. Dieser Text öffnet einen erfahrungsnahen Raum, in dem „Absicht vs. Wirkung“ mit sanfter Klarheit sichtbar werden darf.

Wenn du dich nach mehr gemeinsamer Realität sehnst – jenseits von Erklären, Stillhalten oder Deutungshoheit –, könnte dich dieser Artikel dabei unterstützen, Marker zu erkennen, die Dynamik zu benennen und ein Repair vorzubereiten. In meiner Arbeit (und in der NEURO-Buddy-Methode) erlebe ich immer wieder, wie viel sich verändert, wenn Wirkung bezeugt werden darf und Verantwortung zu sich zurückkehrt.

Damit Beziehung möglich bleibt, darf das Selbstbild nicht berührt werden

Es gibt in Beziehungen viele Muster, die uns aneinander binden. Co-Abhängigkeit und Trauma-Bonding haben unzählige Gesichter. Dieser Text schaut auf ein einziges: eine Dynamik, in der sich Beziehung dem Selbstbild einer Person unterordnet.

Vielleicht kennst du das: Es gab ein Versöhnungsgespräch, vielleicht sogar Versöhnungssex. Worte wurden gefunden, Entschuldigungen ausgesprochen – und doch bleibt etwas ungeklärt. Ein leiser Nachgeschmack bleibt: „Mit mir stimmt etwas nicht. Ich habe überreagiert. Ich bin die Ursache.“

Dein Gegenüber sagt vielleicht, er habe sich entschuldigt, aber er fühle sich auch nicht in seinem Schmerz gesehen. Er erklärt, dass sein Verhalten ja nur eine Reaktion auf deine „Dramatik“ sei, auf dein „Getriggert-Sein“, auf deine „Unverarbeitetheit“. Er bringt Gründe vor, warum er so handelt, wie er handelt. Und du merkst: Im Raum stehen viele Erklärungen – aber wenig Wirkung.

Dieser Text ist ein Baustein für Heilung. Ein wichtiger Schritt in jeder guten Prozessbegleitung – und auch in der NEURO-Buddy-Methode – ist, dass wir Dynamiken klar benennen können, ohne sie sofort zu bewerten. Wir bezeugen, was ist. Erst dann können wir erforschen, welche eingefrorenen Überlebensenergien aktiv sind. Erst dann kann sich etwas bewegen.

Es geht hier nicht um die Person, die das Narrativ kontrolliert – die erkennt sich selten. Dieser Text ist für dich, wenn du oft das Gefühl hast, nicht stattzufinden, wenn du in Gesprächen kleiner wirst, wenn du nach langen Erklärungen deines Gegenübers Selbstzweifel spürst und deine Grenzen verschwimmen.

Ich kenne diese Dynamik von beiden Seiten. Ich kenne den Rückzug, das Einfrieren, das Gefühl, dass meine Realität keinen Platz hat. Und ich kenne die andere Seite: die eloquente, analytische, die versucht zu ordnen, zu erklären, zu rahmen, was in einer Beziehung wichtig ist. Immer aus der unbewussten Haltung heraus: „Zuerst muss meine Realität gesehen werden, erst dann kann ich deine anerkennen.“ Dieser Kampf um Reihenfolge ist ermüdend und verschließt Beziehung.

Sichtbar: Deutungshoheit als Beziehungsfundament

In manchen Beziehungen entscheidet Deutungshoheit darüber, „was wirklich war“. Eine Person beansprucht das Recht, das Narrativ zu bestimmen – und auf diese Weise ihr Selbstbild stabil zu halten. Beziehung richtet sich dann nach einer stillen Bedingung: Dieses Selbstbild darf nicht hinterfragt werden.

Man kann es auch so sagen: Damit die Verbindung bestehen bleibt, muss das Selbstbild unangetastet bleiben. Das ist die unsichtbare Vereinbarung, an der sich Sprache, Ton, Timing und Themenwahl orientieren. Das Tragische ist: Auf diese Weise entsteht eine gemeinsame Illusion von Beziehung. Nähe scheint da zu sein – aber nur solange, bis das Selbstbild gefährdet wird.

Markierungen der Sichtbarkeit:

  • Anerkennen + „aber“ stehen dicht beieinander.
  • Absicht („ich wollte doch…“) überdeckt Wirkung.
  • Erklärfluten ersetzen klare Wirkungssätze.
  • Bedingte Nähe: Zugehörigkeit nur gegen Selbstbild-Bestätigung.
  • Definitionsmacht: Eine Seite legt fest, „wie es war“.

Wirkung als Teil der Realität

Ein entscheidender Aspekt in Beziehungen ist: Die Wirkung, die wir aufeinander haben, ist Teil der Realität. Es reicht nicht, was ich gemeint habe oder wie ich mich selbst sehe. Beziehung entsteht dort, wo ich auch den Effekt meines Verhaltens anerkenne – unabhängig von meiner Absicht.

Genau das ist schwer auszuhalten. Denn oft entspricht die Wirkung meiner Energie auf den anderen nicht meinem Selbstbild. Sie passt nicht zu dem Bild, das ich von mir habe: liebevoll, fair, achtsam. Stattdessen höre ich, dass meine Worte beschämend waren, mein Ton verletzend, meine Art abwertend.

Wenn diese Wirkung nicht anerkannt wird, entsteht keine gemeinsame Realität, sondern zwei parallele Welten, die sich nicht berühren. Und genau dort kippt Beziehung: Beide bleiben unbezeugt – beide Realitäten finden kein Gewicht.

„Soziale Verbundenheit … sendet Sicherheits-Signale, die Abwehrreaktionen herunterregulieren und Zugänglichkeit sowie Co-Regulation fördern.“ — Englisch: “…broadcast and receive cues of safety that downregulate threat reactions of defense and promote accessibility and co-regulation.” (PMC)

Das ist der Moment, in dem eine vertraute Dynamik greift, die viel mit toxischer Scham zu tun hat.

Unbewusst: toxische Scham und Schamabwehr als Motor

Unter der sichtbaren Choreografie liegt oft toxische Scham: das identitätsnahe Gefühl „Mit mir stimmt etwas nicht“. Diese Scham verträgt – besonders im Stress – keine Irritation. Wird das Selbstbild berührt, meldet das Nervensystem Gefahr. Dann greift, was gelernt wurde: Schamabwehr.

„Scham braucht drei Dinge, um exponentiell zu wachsen: Geheimhaltung, Schweigen und Bewertung.“ — Englisch: “Shame needs three things to grow exponentially: secrecy, silence, and judgment.” (TIME)– Brené Brown

Diese Abwehr organisiert sich als Kompensationsstrategie. Sie erklärt Verhalten funktional (Schutz), ohne es zu entschuldigen. Und sie zeigt sich in sehr unterschiedlichen Formen – mal expressiv über Worte, Tempo, Begründungen; mal retentiv über Schweigen, Anpassung, Rückzug. Unterschiedlich im Ausdruck, aber im Kern verwandt: Beide Strategien vermeiden Berührung am Selbstbild.

Zwei Kompensationsstrategien – Schlüssel & Schlüsselloch

Diese Dynamik zeigt sich meist in zwei unterschiedlichen Schutzstrategien. Sie sehen verschieden aus, stammen aber aus derselben Wurzel: toxische Scham. Beide Strategien sollen verhindern, dass Scham bewusst gefühlt werden muss – nur auf entgegengesetzte Weise. Und genau dadurch ergänzen sie sich wie Schlüssel und Schlüsselloch: Jede Seite macht die andere möglich und stabil.

Strategie A – expressiv/extern (Selbstbild aktiv verteidigen)

  • Worte, Tempo, Begründungen, Reframing
  • Empathische Formulierungen erscheinen, bleiben aber Schutz, nicht echte Wirkung
  • Subtext: „Mein Selbstbild muss intakt bleiben.“
  • Verhaltenslogik: erklären, rationalisieren, uminterpretieren

Strategie B – retentiv/intern (Selbstbild des anderen still mittragen)

  • Stillhalten, Anpassung, Selbstzweifel, Rückzug
  • Subtext: „Ich sichere Zugehörigkeit, indem ich mich unsichtbar mache.“
  • Verhaltenslogik: Wahrnehmung entwerten, Grenzen einziehen, nicht äußern

Kern: Beide Strategien stammen aus derselben Verletzung – dem Gefühl, dass der eigene Schmerz nicht gesehen wird. Die expressivere Seite schützt ihr Selbstbild, weil sie die Scham nicht aushalten kann, Täter zu sein. Die zurückhaltende Seite schützt das Selbstbild des anderen, weil sie gelernt hat, dass ihre eigenen Bedürfnisse weniger zählen. Beide sind Leistungen eines Nervensystems, das Sicherheit herzustellen versucht. Zusammen wirken sie wie Schlüssel und Schlüsselloch: Sie passen – und verstärken sich.

Peter & Marianne

Abends in der Küche. Peter erzählt etwas Alltägliches aus seinem Büro. Marianne stellt eine einfache Verständnisfrage. Doch in seinem Ohr klingt sie wie ein Vorwurf: als wäre er unachtsam oder unfair gewesen.

Sein Ton verändert sich. Erst kaum hörbar, dann deutlicher. Er bestreitet, dass er lauter wird. Marianne weist darauf hin: „Deine Energie hat sich gerade verändert.“ Peter verneint – und genau dort setzt die bekannte Kaskade ein.

Er wird schärfer, dramatisiert, bringt Erklärungen. Er legt Gründe dar: warum sein Verhalten nachvollziehbar sei, warum er so reagieren musste. Verantwortung übernimmt er nicht – stattdessen deutet er auf Marianne: Sie sei „zu dramatisch“, „getriggert“, habe „noch nicht genug Therapie“ gemacht.

Marianne kennt diese Drehung. Sie verstummt. Innerlich friert sie ein. Sie weiß aus Erfahrung: Jeder Versuch, ihre Wahrnehmung in den Raum zu stellen, macht es nur schlimmer. Also bleibt sie still. Am Ende ist Peters Selbstbild gesichert – und Mariannes Realität bleibt unsichtbar. Zurück bleibt der alte Gedanke: „Mit mir stimmt etwas nicht.“

Kerstin & Andreas

Ein Samstagabend. Kerstin und Andreas sind auf dem Weg zu Freunden. Die Stimmung ist angespannt, beide sind gereizt. Im Auto wirft Andreas ihr plötzlich vor, sich „wie ihr Vater“ zu verhalten. Der Satz trifft Kerstin ins Mark. Sie ist verwirrt, weil Andreas hier etwas aufgreift, das sie ihm einmal im Vertrauen erzählt hat – in einem sehr verletzlichen Moment.

Innerlich friert sie ein. Toxische Scham macht es ihr schwer, sich abzugrenzen oder die Grenzüberschreitung zu benennen. Ein Teil in ihr flüstert: „Vielleicht hat er ja recht. Vielleicht bin ich wirklich so.“ Statt Wut spürt sie Orientierungslosigkeit.

Später, als sie das Thema vorsichtig anspricht, weicht Andreas aus. „Nicht jetzt. Wir können das nächste Woche in Ruhe besprechen.“ Oder: „Ich hab keine Kapazität für so was – nicht heute.“ Wenn sie Paartherapie oder gemeinsame Gespräche vorschlägt, heißt es: „Später vielleicht. Im Moment geht das nicht.“

Was tatsächlich passiert: Andreas nimmt die Verantwortung nicht zu sich. Er nutzt ihre Offenheit unbewusst als Schutzschild für sein Selbstbild, lenkt das Thema weg und verschiebt es auf einen unbestimmten Zeitpunkt. Für Kerstin bleibt das Gefühl zurück, dass ihre Verletzlichkeit gegen sie verwendet wurde. Dass die Beziehung keinen Ort bietet, an dem ihre Realität Gewicht bekommt.

Der Konflikt löst sich nicht – er wird eingelagert.

Charlotte & Markus

Ein anderes Beispiel:. Markus möchte noch einmal etwas ansprechen. Er sagt: „Ich hatte nicht das Gefühl, dass du mir wirklich zugehört hast. Du warst irgendwie abwesend, und ich bekam nur Floskeln.“

Charlotte reagiert sofort. „Natürlich habe ich zugehört. Wenn du das anders wahrnimmst, liegt das an dir.“ Sie wiegelt ab, schiebt die Verantwortung zurück. Dann fügt sie hinzu: „Ich kann nicht auch noch Mama für dich sein. Mit zwei Kindern habe ich schon genug, die ständig etwas wollen.“

Markus spürt, wie seine Mühe, sichtbar zu werden, ins Leere läuft. Innerlich zieht er sich zurück. Der Satz, den er nicht ausspricht, klingt in ihm: „Nur nicht eskalieren.“

Charlotte bleibt bei sich. Für sie ist klar: Sie war präsent. Für Markus ist klar: Er wurde nicht erreicht. Sichtbar ist: Charlotte setzt das Narrativ, bestimmt, was „wirklich“ war. Markus zieht sich zurück. Unbewusst ist: dieselbe Scham steuert beide – nur in umgekehrter Form.

Der doppelte Verantwortungs-Loop

In dieser Konstellation entsteht häufig eine wechselseitige Verantwortungsschleife – nicht aus böser Absicht, sondern aus Logik:

  • Die kontrollierende Seite denkt und fühlt: „Du bist verantwortlich, mein Selbstbild nicht zu verletzen. Wenn du es tust, ist das dein Trigger.“

  • Die anpassende Seite trägt innerlich: „Du bist verantwortlich, endlich so zu handeln, wie du es täglich formulierst. Ich warte auf deine Einsicht.“

Beide schieben Verantwortung nach außen – und genau das hält die Dynamik am Laufen.

Bei Peter und Marianne zeigte sich das, als Peter lauter wurde und seine Unachtsamkeit nicht anerkennen konnte. Für ihn lag der Auslöser in Mariannes „Dramatik“. Die Verantwortung blieb bei ihr. Marianne wiederum hielt still – in der Hoffnung, er werde eines Tages die Einsicht haben, die er selbst so wortgewaltig einfordert.

Bei Kerstin und Andreas lag die Schleife in der Vertröstung. Er nutzte ihre Offenheit unbewusst als Schutzschild, wich aus, verschob das Gespräch auf später. Sie fror ein und zweifelte an sich. Auch hier: kein Repair, kein gemeinsamer Boden – nur Aufschub.

Und bei Charlotte und Markus zeigte sich das Muster in der Deutungshoheit: Charlotte bestimmte, was „wirklich“ geschehen war, und wies jede Kritik zurück. Markus blieb still und wartete, dass sie irgendwann versteht, wie leer er sich an ihrer Seite fühlt.

Im Kern passiert immer dasselbe:

  • Die eine Seite schützt ihr Selbstbild nach außen und entwertet dabei die Realität des Gegenübers.

  • Die andere Seite richtet die Energie nach innen und entwertet ihre eigene Realität aus toxischer Scham heraus.

Beide Bewegungen – nach außen und nach innen – führen zum gleichen Ergebnis:
👉 Keine der Realitäten hat Raum.
👉 Es gibt keinen authentischen Austausch.
👉 Beziehung wird formell aufrechterhalten, aber der lebendige Dialog bricht ab.

Was bleibt, ist ein scheinbarer Kontakt, der auf einer stillschweigenden Übereinkunft ruht: Das Selbstbild bleibt unberührt – und mit ihm die Distanz.

Wie es sich von innen anfühlt

„Die Geschichte folgt dem Zustand.“ — Englisch: “Story follows state.” (Rhythm of Regulation) – Deb Dana

Äußere Strategie (A): Da ist ein scharfer Rand, sobald das Selbstbild berührt wird. Ein Teil will sofort ordnen, klären, rechtfertigen. Es fühlt sich an, als würde die eigene Integrität wackeln, wenn nicht gleich erklärt wird, warum etwas „so“ passieren musste. Empathische Worte sind abrufbar, aber sie werden als Schutz benutzt. Danach folgt eine kurze Erleichterung – die nicht trägt, weil die andere Person leer bleibt.

Innere Strategie (B): Da ist eine feine Müdigkeit, die sich nicht ablegen lässt. Ein Wunsch nach Ruhe, nach Frieden. Grenzen wirken riskant, sobald sie ausgesprochen werden. Also bleiben sie unausgesprochen. Nach Gesprächen taucht subtiler Selbstzweifel auf: „Vielleicht sehe ich es zu eng.“ Nähe wird über Anpassung organisiert – und kostet Lebendigkeit.

Beide Innenwelten sind verständlich, wenn man toxische Scham als Hintergrund kennt. Sie sind keine Willkür, sondern Versuche des Nervensystems, Sicherheit herzustellen – nur mit gegensätzlichen Gesten.

Was fehlt, ist ein Repair

Wenn diese Dynamik aktiv ist, spüren beide Seiten den Schmerz – aber es passiert etwas Entscheidendes nicht: ein Repair. Repair bedeutet nicht, dem anderen zu sagen, was er falsch gemacht hat. Repair bedeutet, die Wirkung des eigenen Verhaltens wirklich zu sehen – ohne Rechtfertigung, ohne Beschwichtigung, ohne Relativierung. Es bedeutet, zwei Realitäten nebeneinander stehen zu lassen und beide anzuerkennen.

Krishnananda & Amana Trobe haben uns dafür eine klare Formulierung gelehrt:
„Ich kann sehen, dass mein Verhalten in dir … ausgelöst hat.
Das tut mir leid.
Und das ist meins.“

Das ist der Kern: das eigene Verhalten wieder zu sich nehmen. Verantwortung für die eigene Wirkung übernehmen – nicht erklären, warum es so war, nicht die Perspektive des anderen zurechtrücken. Sondern die Wirkung stehen lassen und sie als Teil der gemeinsamen Realität anerkennen. Sich gesehen zu fühlen ist ein zutiefst subjektives Empfinden. Kein Partner kann für den anderen bestimmen, ob er sich gesehen fühlt. Was möglich ist: mit Liebe die Kraft aufzubringen, so lange zu investieren, bis die andere Seite tatsächlich spürt: „Ja, das hat bei dir angekommen.“ Repair bedeutet auch: langfristig wirklich in Veränderung zu gehen. Es reicht nicht, Einsicht zu formulieren. Sie braucht Handlung.

Marker als Wegweiser

Wenn du dich in dieser Dynamik wiedererkennst, können dir bestimmte Marker im Alltag helfen, sie schneller zu erkennen. Sie sind kein Urteil, sondern Beobachtungssprache. Sie machen sichtbar, dass gerade eine Schutzlogik aktiv ist – und laden dazu ein, einen Schritt ins Bewusstsein zu gehen.

  • „Ja, aber …“ – Anerkennung und Relativierung stehen dicht nebeneinander.
  • Absicht über Wirkung – „Ich wollte doch nur …“ überlagert, was angekommen ist.
  • Kontextflut – lange Erklärungen statt kurzer Wirkungssätze.
  • Einseitige Deutungshoheit – eine Seite bestimmt, „wie es wirklich war“.
  • Rollentausch – die verletzte Seite rechtfertigt sich.
  • Unsichtbare Grenzen – Anpassung statt klarer Grenze.
  • Bedingte Nähe – Zugehörigkeit nur, wenn das Selbstbild bestätigt wird.

Wenn du diese Marker im Gespräch bemerkst, kann das ein inneres Signal sein: Stopp. Hier läuft eine alte Dynamik. In solchen Momenten ist es nicht darum gegangen, sofort „das Richtige“ zu sagen, sondern dich um dein Nervensystem zu kümmern. Einen Moment der Bezeugung zu schaffen: innehalten, spüren, benennen, was da ist. So entsteht der erste Schritt, aus der Wiederholungsschleife auszusteigen.

Wozu das Ganze

Wenn du bis hier gelesen hast, betrifft dich diese Dynamik wahrscheinlich selbst – und sehr wahrscheinlich eher auf der resignierten Seite. Vielleicht kennst du das Gefühl von Rückzug, Anpassung, Stillhalten. Vielleicht wartest du darauf, dass dein Gegenüber endlich erkennt, was sein Verhalten in dir auslöst.

Der erste Schritt in dieser komplexen Dynamik ist: zu verstehen, dass mit dir nichts falsch ist. Es sind Schutzmechanismen am Werk – auf beiden Seiten. Doch genau darum braucht es den Mut, die eigene Selbstverantwortung wiederzufinden.

Worauf es ankommt, ist aufzuhören zu warten, dass der andere diesen Schritt geht. Gerade derjenige, der sein Selbstbild schützt, ist überzeugt: „Mit mir ist nichts zu verändern.“ Von dir wird er diese Botschaft nicht annehmen.

Entscheidend ist: Es gibt immer zwei Realitäten. Ich darf für meine eigene Realität einstehen – und ich darf anerkennen, dass auch die Realität des anderen existiert. Keine von beiden ist „besser“. Erst wenn beide Realitäten nebeneinander bestehen dürfen, entsteht eine gemeinsame Basis.

Haltungskern

  • Freundschaft mit dem Nervensystem: Schutzlogiken anerkennen, bevor sie sich verändern können.
  • Grenzen sind Liebe in Struktur: Grenzen schützen Kontakt vor Überforderung.
  • „Ich darf die Realität des anderen anerkennen – und zugleich für meine eigene einstehen.“

Schlussbild

Diese Dynamik bindet Beziehung an ein Selbstbild, nicht an Realität. Beziehung bleibt bestehen, solange das Bild unberührt bleibt. Sichtbar ist eine Choreografie aus Erklären und Stillhalten, Deutungshoheit und Unsichtbarkeit. Unbewusst wirkt toxische Scham als Motor.

Die Strategien unterscheiden sich – laut verteidigen oder still zurücknehmen – doch die Ursache ist dieselbe: Scham, die nicht gefühlt werden kann. Beide Strategien sichern Sicherheit – und blockieren Berührung. Diese Linse reicht, um die Dynamik zu erkennen. Alles Weitere – wie ein echtes Repair gelebt werden kann – folgt in einem eigenen Text. Liebe ist das Design. Das Nervensystem die Sprache. Integration die Richtung.

FAQ

Woran erkenne ich toxische Scham in meiner Beziehung?

Oft daran, dass Absicht die Wirkung überdeckt und Deutungshoheit wichtig bleibt. „Ja, aber…“-Sätze, Erklärfluten und bedingte Nähe könnten Marker sein.

Was unterscheidet Trauma Bonding von Co-Abhängigkeit?

Trauma Bonding beschreibt Bindung über Intensität und Verletzung; Co-Abhängigkeit fokussiert eher auf Aufrechterhaltung von Funktion und Rollen. In der Praxis könnten sich beide Muster überlappen.

Wie formuliere ich ein innerhalb eines Repair, ohne mich zu rechtfertigen?

Indem du Wirkung bezeugst: „Ich sehe, dass mein Verhalten in dir … ausgelöst hat. Das tut mir leid. Und das ist meins.“ Keine Relativierungen, kein Reframing – nur Anerkennung.

Warum ist „Absicht vs. Wirkung“ so heikel?

Weil die erlebte Wirkung oft nicht zum Selbstbild passt. Das Nervensystem meldet Gefahr; Schamabwehr springt an – entweder expressiv (Erklären) oder retentiv (Stillhalten).

Gibt es Tools, mit denen ich das üben kann?

Ja. Ein besonders wirksames Kommunikationstool ist das Herz-Sharing. Es schenkt Paaren einen klaren Rahmen, in dem beide Realitäten nebeneinander stehen dürfen – ohne Bewertung oder Rechtfertigung. Auf meiner Seite findest du dafür das kostenlose Herz-Sharing-GPT, deinen „Coach für die Hosentasche“, der dich Schritt für Schritt durch diesen Prozess führt.

 

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Bild von Micha Madhava -

Micha Madhava -

über Trauma, Beziehung und das Nervensystem – für eine traumainformierte Gesellschaft und eine wohlwollende Kultur des Miteinanders.

Meine Texte wachsen aus der Überzeugung, dass Liebe das grundlegende Design des Lebens ist – und dass unser Nervensystem die Sprache ist, in der dieses Design spürbar wird.

Ich schreibe, um Differenzierung zu ermöglichen – in einer Welt, die viele von uns überfordert, emotional fragmentiert oder in Anpassung zwingt.
Meine Impulse laden ein, zurückzufinden: in Kontakt, in Selbstwahrnehmung, in Beziehung.
Denn was uns geprägt hat, muss nicht bestimmen, wie wir leben.

Meine Vision ist eine Gesellschaft, in der Beziehungskompetenz selbstverständlich wird – in Partnerschaft, Elternschaft, Freundschaft und im sozialen Gefüge.
Je besser wir unsere Biologie verstehen, desto tiefer können wir lieben.

Liebe ist das Design. Das Nervensystem ist die Sprache. Resonanz die Richtung.

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